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Europa

Georgiens dringendster Wunsch – EU-Beitritt und NATO-Mitgliedschaft

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 23.06.2023

Die Europäische Union wird das Problem nicht los. Im Gegenteil, der Überfall Russlands auf die Ukraine verstärkt verständlicherweise den Wunsch vieler Bürger ehemaliger Sowjetrepubliken – sie wollen in den (erhofft) sicheren Hafen der EU sowie der NATO. Und sei es, wie das Beispiel Georgiens zeigt, gegen das Agieren der eigenen Regierung:

Laut verschiedenen Studien möchten die meisten Georgier:innen in die EU. Eine im März veröffentlichte Studie des International Republican Institute (IRI) ergab, dass 89 % der Bevölkerung einen Beitritt zur EU befürworten und 80 % auch der NATO beitreten möchten. Dieser Wunsch wird von den Georgier:innen in verschiedenen Situationen zum Ausdruck gebracht, wie beispielsweise bei Kundgebungen im März gegen das „Agentengesetz“, das Medien und Organisationen, die aus westlichen Mitteln finanziert werden, als Agenten einstufen wollte. 
Dieses umstrittene Gesetz über „ausländische Agenten” war dem berüchtigten russischen Gesetz sehr ähnlich. Der Kreml nutzt das Gesetz in Russland, um die russische Opposition zu unterdrücken. Das in Georgien geplante Gesetz beinhaltete,
dass jede juristische Person, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzmittel von einer „ausländischen Macht“ erhält, als „Agent ausländischen Einflusses“ registriert wird. Abgesehen von der stigmatisierenden Bezeichnung gewährt es Regierungsbeamten uneingeschränkte Informationen über die betroffenen juristischen Personen, sowohl was ihre Finanzen, ihre externe Korrespondenz, ihre persönlichen Daten und die ihrer Mitarbeiter anbelangt.
Hinter dem Gesetz stand eine Gruppe von Abgeordneten um die antiwestliche, russophile und rechtsextreme Bewegung People's Power, die, mit Unterstützung der eher pro-russischen Regierenden, Hetzkampagnen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen führt. Die massiven Proteste der georgischen Bevölkerung verhinderten schließlich die Verabschiedung durch das Parlament. 
Dieser trotzige Sieg der georgischen Gesellschaft ist dem Kreml ein Dorn im Auge. Die heftigen Reaktionen von Putins Sprechern deuten darauf hin, dass der Gesetzesentwurf nicht nur eine Nachahmung des russischen Gesetzes, sondern tatsächlich eine vom Kreml gesteuerte Strategie war. Die Demonstrationen wurden vor allem von jungen Menschen initiiert, die noch nie direkt in einem totalitären System gelebt haben. 
Und auch nie in einem wie auch immer vom heutigen Russland dominierten Verbund leben wollen. Diese Situation macht aber auch klar, dass Russland weiter versuchen wird, seinen Einfluss mit aller Gewalt aufrecht zu erhalten. Eine irgendwie anziehende „Soft Power" hat es dieser Jugend nicht zu bieten. Die kämpft für den EU-Kandidatenstatus, den offensichtlich die aktuelle georgische Regierung nicht wirklich will.
An einer der größten Demonstrationen des letzten Jahres, im Juni, an der eine ungewöhnlich hohe Zahl von Demonstrant:innen teilnahm (Schätzungen zufolge zwischen 120.000 und 160.000), wurde mit dem Slogan „Nach Hause, nach Europa“ gegen die Ablehnung des EU-Kandidatenstatus (durch die EU, Th.W.) protestiert.
Die georgische Regierung wiederum "glänzt" mit eher pro-russischen Aktivitäten, die wiederum die EU verärgern:
Der EU-Botschafter Paweł Herczyński äußerte das Bedauern der EU über die Entscheidung der georgischen Regierung, Direktflüge mit Russland zu akzeptieren, und betonte, dass dies im Widerspruch zur Position der 27 Mitgliedstaaten stehe. 
Annalena Baerbock hat zwar in ihrer Rede während ihres Besuchs in Georgien im März dieses Jahres ihre Unterstützung für den EU-Kandidatenstatus Georgiens bekräftigt. Aber wie es jetzt aussieht, könnte noch viel Zeit ins Land gehen, bis man klarere Bilder sieht.
Seit einem Jahr ist Georgien verpflichtet, zwölf Prioritäten zu erfüllen, die im Juni 2022 von der EU-Kommission empfohlen wurden. Diese Prioritäten umfassen verschiedene Änderungen und Reformen in unterschiedliche Richtungen wie Justizreform, „Deoligarchisierung“, Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Verbesserung der Medienlandschaft, Lösung des Problems der politischen Polarisierung und Berücksichtigung unabhängiger Personen bei der Ernennung eines neuen Bürgerbeauftragten (Ombudsstelle).

Aber nach einem von mehreren NGOs erstellten Bericht hat Georgien von diesen zwölf Prioritäten lediglich eine vollständig und zwei teilweise erfüllt. Neun Punkte sind weiter problematisch.

Andererseits hat der georgische Staat hat nicht mehr viel Zeit, da die Europäische Kommission im Herbst einen ordnungsgemäßen Erweiterungsbericht veröffentlichen wird, der eine Empfehlung an die Europäische Kommission enthalten soll, Georgien in diesem Jahr den Kandidatenstatus zu verleihen. Ein klassisches Dilemma. Eine von Oligarchen geführte georgische Regierung, die die von der EU geforderte „Deoligarchisierung“ nicht möchte, eine EU, die auf diese Forderung nicht verzichten kann oder will und eine aggressive politische Situation in der Großregion. Es gilt:

Für Georgien und die georgische Bevölkerung ist der Kandidatenstatus und der Beitritt zur EU und NATO nicht nur ein Wunsch, sondern die einzige Lösung für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger:innen. Bekanntlich sind 20% des georgischen Territoriums von Russland besetzt, was eine ernsthafte Herausforderung für die nationale Sicherheit des Staates darstellt. 
Einen berührenden Bericht über die Stimmung im Lande, auch angesichts der Tausenden russischen Migranten, die wegen des Ukrainekrieges nach Georgien strömen (und die trotzdem kleine "großrussische Chauvinisten" sein können) findet man hier. Demnach repräsentiert Georgien für die meisten Russen
seit jeher (seit der Zarenzeit) die exotische Gegend mit der großartigen Natur, viel Sonne und einer ein wenig widerspenstigen Bevölkerung, der sie zu keiner Zeit die Unabhängigkeit zugestanden – eine kleine Kolonie, der sie die Zivilisation brachten und die sie am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vor dem "Untergang" retteten. Es ist also nicht verwunderlich, dass Staatsangehörige Russlands, dessen klassische Literatur von Stereotypen über Georgier und Georgien strotzt (Puschkin, Lermontow und viele andere), heute fauchend auf eine einfache junge Georgierin losgehen mit "Wieso kannst du kein Russisch? Bist du russophob?!".
Es steht der Vorwurf, 
"Vor Putins Regime geflüchtete" Russen und Russinnen kaufen reihenweise Immobilien, lassen Unternehmen registrieren und, vor allem, verbitten sich explizit, an das Geschehen in der Ukraine erinnert zu werden. Dass sie sich überhaupt erinnern oder wahrnehmen, was geschieht, geben sie ohnedies nicht groß zu erkennen.
Da braut sich u. U., während wir vor allem auf den Krieg in der Ukraine starren, etwas sehr Ungutes zusammen. Georgien, in weiter Ferne und doch so nah!

Trotzdem, es ist richtig, die Osterweiterung in dieser konfliktreichen Region voranzutreiben. Mit der neuen Erweiterungsrunde, die die Ukraine, Moldawien, Georgien sowie den westlichen Balkan einbeziehen soll, verfolgt die EU ein großes, komplexes geostrategisches Projekt. Was nicht von allen Mitgliedsstaaten begeistert aufgenommen wird. Es kommen unruhige, herausfordernde Zeiten auf uns zu. Gegebenenfalls auch Waffen für Georgien? Das sollten wir im Blick haben und etwas weniger auf unseren (woken?) Bauchnabel starren.
Georgiens dringendster Wunsch – EU-Beitritt und NATO-Mitgliedschaft

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