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Fundstücke

Die anderen Selbstmörder

Christian Gesellmann
Autor und Reporter

Geboren 1984 in Zwickau, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Germanistik in Jena und Perugia. Volontariat bei der Tageszeitung Freie Presse, anschließend zweieinhalb Jahre als Redakteur in Zwickau. Lebt als freier Autor in Leipzig und Bukarest. Quoten-Ossi bei Krautreporter.

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Christian GesellmannMittwoch, 08.06.2016

Richard Drew ist ein Fotograf, der ein außergewöhnliches Gespür dafür hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Oder zur falschen Zeit am falschen Ort. Je nach Perspektive. Drew stand direkt hinter Bobby Kennedy, als dieser 1968 erschossen wurde, er hatte dessen Blut an seinem Jackett, während er fotografierte, wie Ethel Kennedy die Presse anflehte, keine Fotos von ihrem sterbenden Mann zu machen. 

Am 11. September 2001 war Drew in der Nähe des World Trade Center, als dort am frühen Morgen zwei Flugzeuge in die Türme flogen. Er fotografierte die Menschen, die aus den oberen Stockwerken sprangen, die sich entschieden, ihr Leben selbst zu beenden, bevor es Rauch und Flammen konnten. 

Eines dieser Bilder Drew's zeigt einen Mann, der kopfüber, in perfekter Symmetrie zur Fassade der Türme, im freien Fall, der seinen Tod bedeuten würde, eine Körperhaltung einnahm, die die Schwerkraft zu umarmen schien. Das Foto strahlt eine verstörende Faszination aus, ein Wimpernschlag  Schönheit an einem Tag des Horrors. Am nächsten wurde es von fast jeder Zeitung der USA abgedruckt. 

Es folgte ein Aufschrei der Empörung. In der Folge wurde das Bild, wie andere Bilder der sogenannten 9/11 Jumper verbannt — und mit ihnen auch das Phänomen des massenhaften Selbstmordes an jenem Tag. Rund 200 Menschen hatten den Freitod gewählt. Amerika hatte in den Selbstverteidigungsmodus geschaltet. Es brauchte Helden, keine Selbstmörder. 

Der Journalist Tom Junod machte sich auf die Suche nach dem Mann, der in Drews Bild zu sehen ist. Er konnte nie zweifelsfrei identifiziert werden, aber Junods Suche wurde ein Trip in die amerikanische Psyche und in die Ethik der Berichterstattung. Zwischen Dokumentation und Sensationslust — eine Diskussion, die sich ständig wiederholt, vor Kurzem durch die Bilder der georgischen Fotografin Ketevan Kardava von einer blutenden Flugbegleiterin nach dem Terroranschlag in Brüssel.

"THE PHOTOGRAPHER is no stranger to history; he knows it is something that happens later. In the actual moment history is made, it is usually made in terror and confusion, and so it is up to people like him-paid witnesses-to have the presence of mind to attend to its manufacture", schreibt Junod. 

Junods Reportage jedenfalls ist selbst zu einem Stück Geschichte geworden. 

Wer kein Esquire-Abo hat, kann den Text hier kostenlos abrufen.

Die anderen Selbstmörder

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