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Literatur

Idiotenführer Dostojewskij

Idiotenführer Dostojewskij

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelDienstag, 26.06.2018

Russland und kein Ende: Durch eine schöne Rezension in der Mittwochs-Geisteswissenschafts-FAZ (Pflichtlektüre, wenn man sich das Gefühl bewahren will, lebenslang zur Schule zu gehen) wurde ich auf ein neues Buch und zwei ältere Bücher über Fjodor Dostojewskij aufmerksam gemacht.

Unter dem schönen Titel "Schuld und Shitstorm" schrieb Christiane Pöhlmann zwar nicht im Geisteswissenschafts-Teil, sondern im Feuilleton über die neue Biographie von Andreas Guski, "Dostojewskij" (C.H. Beck), die allerdings 460 Seiten hat. Bei aller Liebe (und obwohl das Werk in der FAZ gar nicht so schlecht wegkam) kann ich mir so einen Schinken momentan leider nicht reinziehen: wegen Bücherstau auf dem Schreibtisch und WM im Fernsehen. Dafür wurde aber in der angenehm ausgewogenen und kenntnisreichen Rezension auf zwei weitere (ältere und vor allem schmalere!) Bücher über den Russen hingewiesen, die ich mir sofort besorgte.

Die Comic-Biographie "FMD - Leben und Werk von Dostojewski" (Knesebeck) von Vitali Konstantinov liefert auf 64 Seiten einen wunderbar gezeichneten Überblick über sein Leben und vor allem Schaffen. Konstantinov schafft es, Werke wie "Erniedrigte und Beleidigte", "Der Idiot" oder "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" auf jeweils genau einer Seite in anarchisch bis alptraumhaft zusammenassozierte Comic-Tableaus zu verdichten. Hierfür reichen ein paar karikierende Kernszenen und Schlüsselzitate, die sich Konstantinov wild bei Fjodor Michailowitsch rausgepickt hat: wie zum Beispiel in den "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" von 1864, wo er Dostojewski an den Gräbern seiner Ehefrau Mrija, seines Bruders Michail, seines Freundes Apollon Grigorjew zeigt, alle im selben Jahr gestorben, während oben drüber gemalt ein Mann mit totenhafter Maske neben einer nackten Blonden liegt:

Eigenes, selbständiges, freies Wollen, eigener, wenngleich absolut wilder Einfall, eigene Fantasie gereizt bis zur Verrücktheit - das ist genau DER nützlichste Nutzen, der alle Systeme und Theorien zum Teufel schickt. Wer sagt, dass der Mensch ein vernünftiges, nützliches Wesen braucht?! Der Mensch braucht nur selbständiges Wollen!

Da ich außerdem gerade über einen Tennistrainer schreibe, der sich ein bißchen Literatur draufschaffen will, um seine Schüler mit gezielt-gespielter Crazyness zu beeindrucken (oder sie zu mehr Individualismus auf dem Court anzustacheln), war dieser Comicband ideal für mich, der die biographischen Etappen wie Kindheit, Militär, Spieler immer wieder mit super Sentenzen unterfüttert:

Ich habe ein Projekt: ein Verrückter zu werden. Da sollen die Leute toben, mich heilen, mich wieder normal machen.

Oder:

Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muss es enträtseln, und wenn du es ein ganzes Leben enträtseln wirst, so sage nicht, du hättest die Zeit verschwendet. Ich beschäftige mich mit diesem Geheimnis, denn ich will ein Mensch sein.

Für derlei Weisheiten musste Dostojewskij natürlich vor allem in seinem Heimatland schwer einstecken. Auf einer einleitenden Schautafel zeigt Konstantinov, was führende Russen von ihm hielten: "Dostojewski ist ein großer Schriftsteller und ein großer Reaktionär, er hat eine schlechte Wirkung auf die Jugend!" (Stalin), "Dostojewski - bloß moralisierende Kotze! Ich habe keine Zeit für den Scheiß!" (Lenin).

Dazu passt auch sehr schön das Buch, auf das Christiane Pöhlmann gleich zu Beginn ihrer Rezension hinweist:

„Idiotenführer durch die russische Literatur“ ist nicht etwa das neueste Handbuch für Schmalhirne, sondern eine bereits 1925 erschienene Streitschrift. Dem „Rückgrat der Welt“ gewidmet, zieht darin Bertha Eckstein-Diener unter dem Pseudonym Sir Galahad vom Leder. Vor allem Dostojewskij trifft es, dessen redselige Figuren „brünstig nach schlechtem Gewissen“ seien. „Kaugummi wäre edler am Platz, muss durchaus etwas speichelseicht stundenlang von Mund zu Mund gehen.“ Jedes einzelne Ich in Dostojewskijs „Maniakhaufen“, jeder einzelne Idiot, übe „Masochistenterror über die Welt“ aus, auf dass diese dem Erniedrigten und Beleidigten huldige.

Als ich mir das Buch im Internet bestellen wollte, merkte ich erst, wie populär das "Idiotenführer"-Konzept in Deutschland ist. So gibt es unter anderem einen "Idiotenführer - Im Irrgarten der Intelligenz“ von Hans Magnus Enzensberger (Edition Suhrkamp) und vor allem den vierteiligen "Idiotenführer durch die deutsche Gesellschaft" (Teil 1: Hochadel, Teil 2: Adel, Teil 3: Schickeria, Teil 4: Prominenz) von Gregor von Rezzori, der ganz nebenbei bemerkt auch ein hochinteressanter Autor (unter anderem der "Memoiren eines Antisemiten") gewesen zu sein scheint, den man vielleicht auch mal wieder entdecken könnte.

Meine antiquarische Ausgabe des "Idiotenführer durch die russische Literatur" (Albert Langen, München 1925) kam jedenfalls mit einer netten Grußkarte des Verkäufers, der mir zu diesem Bad Reading-Kauf (für 30€) gratulierte. Ich habe es noch nicht gewagt, das sorgfältig in Plastikfolie verpackte Exemplar aufzumachen. Das Buch hebe ich mir wie einen guten Wein für einen besinnlichen Leseabend auf, wenn die WM vorbei ist und ich in Ruhe gucken kann, ob er umgekippt ist.

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Kommentare 1
  1. Georg Wallwitz
    Georg Wallwitz · vor mehr als 6 Jahre

    Die WM ist jetzt vorbei. Also loslesen!

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