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Quelle: Karl van Worm, Johanna bei Johannes mit chinesischer Maske, 2017
Geboren 1975 in Hildesheim. Studierte Drehbuchschreiben an der Filmhochschule Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. Ausgedehnte Reisen in den Mittleren Osten, durch Asien und Ozeanien. Lebte ein Jahr in Neuseeland. Fotografiert und schreibt für Berliner Kurier, Der Freitag, Zeit Online. Er lebt mit seiner Familie als freier Autor in Berlin.
„In die Sowjetunion bin ich dann noch neunzehn Mal gefahren, immer illegal.“ (Ulrich Henrici)
„Um mich vorzubereiten, hatte ich die Berliner Stadtbibliothek geplündert und viele abenteuerliche Bücher über das Ersteigen großer Berge gelesen. Außerdem fuhr ich im Frühjahr nach Prag, um mir Wanderschuhe zu besorgen, so etwas gab es in der DDR nämlich nicht. Mit meinen Jesuslatschen wäre ich ja nicht über die Geröllfelder gekommen.“ (Hartmut Beil)
Es gibt eine bezeichnende Szene in einem Film über Jonathan Meese. Darin liegt der Künstler auf einer Matratze in einem Zimmer voller Bücher, greift nach rechts und links, nimmt ein Buch nach dem anderen in die Hand und erzählt, dass er sie liebt, dass er ständig welche kauft, dass es ihm aber reicht, mit den Händen darüber zu streichen. So könne er - ohne die Bücher zu lesen - ihre Aura aufnehmen und damit arbeiten.
So ähnlich geht es mir mit dem Buch: „Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich". Als ich zum ersten Mal davon hörte, war ich sofort Feuer und Flamme. Drei Themen, die mich interessieren, scheinen auf das Glücklichste vereint. Erstens die jüngere (deutsche) Geschichte (die 80er in der DDR und der Sowjetunion kurz vor dem Zusammenbruch), zweitens das Reisen in Richtung Asien (was im Zusammenhang mit der DDR selten vorkommt) und drittens das Illegale und Subversive (das immer glimmt und strahlt und lockt. Ganz besonders dann, wenn es beängstigende Konsequente haben kann.)
Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mir das Buch besorgt habe. Meine Vorfreude war riesig. Als es endlich auf meinem Schreibtisch lag, streichelte ich es für ein paar Tage meesemäßig. (Es hat einen schwarzen, wetterfesten Umschlag, sieht aus wie ein Manual und wiegt fast zwei Kilogramm.)
Logischerweise musste das Buch eine Enttäuschung werden. Nach dreißig Seiten wünschte ich, dass ich es nie aufgeschlagen hätte. Dann wurde es besser, sehr viel besser. Nach hundert Seiten verwandelte es sich in ein wunderbares, ein aufgeladenes Buch.
Die meisten Beiträge sind nicht übermäßig brillant aufgeschrieben. Bei einigen handelt es sich um transkribierte Gespräche, die die Herausgeberin Cornelia Klauß geführt hat. Bei anderen um Beiträge für Bergsteigerzeitschriften. Dann sind da noch ein paar anschauliche Berichte, wobei der Text eines „Mini-Knausgards“ – es ist der Aufsatz eines Schülers von 1978 – heraus sticht. (Der Aufsatz hatte zur Folge , dass der Schüler sein Abitur nicht mehr machen durfte.) - So unterschiedlich diese Texte auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen etwas sehr, sehr Wertvolles.
Gehen wir jedoch einen Schritt zurück und versuchen die fünfundzwanzig Texte von fünfundzwanzig verschiedenen Autoren auf einen Nenner zu bringen:
Ein junger Mensch – ich nenne ihn mal Johannes, nach dem „Mini-Knausgard“ - lebt in einem Land, das er nicht in Richtung Westen verlassen darf. Also tritt er die Flucht nach vorne an. Wenn er schon in Richtung Osten muss, dann so weit wie möglich hinein und so hoch wie möglich hinaus.
Unser Held beginnt, sich einen Schlafsack zu nähen, sich selbst Dokumente auszustellen, sie mit eigenen Stempeln zu versehen, Außenbordmotoren zu verpacken, Pläne für Eissegler anzufertigen, Bibeln zu sammeln oder einfach nur Nahrungsmittel zu horten, um sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen.
Mit dem offiziell beantragten Transitvisum fährt unser Held nicht in den östlichen Teil Rumäniens, wie er angegeben hat, sondern biegt auf dem Weg dorthin in der Ukrainischen SSR von der vorgegebenen Marschrut (маршрут) ab. Unerlaubterweise fährt, trampt oder radelt er in den Kaukasus, nach Zentralasien, an die Grenze zu Afghanistan oder zum Iran. Bis zur Mongolei oder Sibirien. Tadschikistan, Georgien, Aserbaidschan, Tschetschenien.
Dort angekommen besteigt unser illegal reisender Held verschiedene Berge (den Pik Lenin (7134m) und den Pik Kommunismus (heute: Pik Ismoil Somoni, 7495m)), hütet die Ziegen der Einheimischen oder stiefelt durch muslimische Dörfer. Wenn seine bergsteigerischen Ambitionen - so er denn je welche hatte - nachgelassen haben (Oh, wie angenehm unangeberisch ist dieses Buch!), trinkt er Tee in Taschkent, besucht Okudshawa und Aitmatow in Tiflis oder besäuft sich in Estland. Dabei sieht er Landschaften, die jedem DDR Bürger den Atem nehmen würden. An Republikflucht denkt unser Held nur hin und wieder. (Es gibt Ausnahmen: Einer der Transitreisenden kommt bis nach Hongkong. Zwei andere erreichen das Land jenseits Kolymas, von wo sie vergeblich versuchen, nach Alaska zu fahren).
Zuletzt verliebt sich unser Held in eine Studentin aus Moskau und erlebt umwerfende Gastfreundschaft bei Hirten, Städtern, Künstlern, Dissidenten, kurz: bei allen Menschen, denen er begegnet; auch wenn deren Versorgungslage das eigentlich nicht zulässt und ihnen die Bausubstanz unter ihren Füssen wegbröckelt.
Schließlich geht es zurück. Über die Krim und Odessa nach Rumänien. Die Begegnungen mit den Offiziellen fürchtet unser Held und meidet sie, doch wenn es zu einem Kontakt kommt, geht er fast immer glimpflich aus. Unser Hero spricht russisch und seine harmlosen Lügen werden (auch vom KGB) gekauft. Er behauptet, ein Ornithologe aus Litauen zu sein, woraufhin er frei gelassen wird. (Die meisten der „Transitreisenden“ werden für Balten gehalten, die die russische Sprache radebrechen und ablehnen.) Was unserem Helden vor allem zu Gute kommt ist, dass die Behörden auf keinerlei Weise vernetzt sind. Im schlimmeren Fall wird er in die DDR zurückgeschickt, wo niemand ihn vermisst hat. - Und wie war´s in Rumänien?
Zu schön, um wahr zu sein?
Einige Berichte bergen den Stoff für Erzählungen. So der Bericht von Michael Möller, der mit ein paar Kommilitonen auf dem Transitvisum reist, und von seiner eigenen Unverschämtheit so überwältigt ist, dass er sein Verhalten während dieses „Abenteuers im Märchenland“ völlig ändert. Als er mit seinen Freunden in Zentralasien angekommen ist und zwischen tausend Jahre alten Moscheen herumturnt, vor Bahnhöfen zeltet und die Grenze zum Iran nach Fluchtmöglichkeiten abcheckt, stellt er fest, dass er sich nicht mehr von einem x-beliebigen Ballermann-Touristen unterscheidet und schwere interkulturelle Verwüstungen anrichtet...
Die drei Spitzen dieses Dreiecks - DDR in den 1980ern / Reisen nach Zentralasien / der Underground - zeigen in unterschiedliche Richtungen, doch die Strahlen, die von ihnen ausgehen, treffen sich in einem Punkt. Dieser Punkt heißt Jugend. Das Buch kündet, nein es schäumt über vor Enthusiasmus, Naivität, Reiselust, Fernweh, Unverschämtheit und Improvisation. Verliebt- und Pleitesein. Offenheit und Neugier. Münchhausen meets KGB.
Und wunderbarerweise treffen sich diese Strahlen noch in einem zweiten Punkt, und da wären wir zwar nicht bei Jonathan Meese, aber bei einem anderen Maler angekommen, der später mit dem Schreiben begann: Wolfgang Herrndorf. Diesen Mann bringt wohl niemand mit der DDR, dem Reisen nach Asien oder mit dem Underground in einen Zusammenhang, bis er Tschick veröffentlicht hat. Den Roman über das Reisen schlechthin. Junge Menschen fahren los, weg von den Eltern, weg von der Heimat, ohne großen Plan, ohne Stipendium, mit vollem Risiko, riesiger Sehnsucht und noch größerer Melancholie. Alles ist neu, alles ist schmerzhaft und umwerfend. Man ist noch nicht übersättigt von Menschen und ihren Geschichten. Es gibt keinen doppelten Boden - kein Bild der Reise, das sich die anderen machen sollen. Man versucht, sich selbst die Welt zu erklären, nicht den anderen; und begegnet vielleicht aus diesem Grund auf dieser Reise dem, was Herrndorf nicht nur in „Tschick“, sondern auch in „Arbeit und Struktur“ heraushebt: Eine uns verwirrenden, bestürzende FREUNDLICHKEIT DER WELT.
„Unerkannt durch Freundesland“ und „Tschick“ sind verbrüderte Bücher. „UdF“ bringt den Rohstoff, es fotografiert sozusagen den realen Wahnsinn, beschreibt die Pflanze mit ihren tausend ähnlichen Blättern und Knospen. Tschick dagegen bringt die Formulierung, die Form, das Zeichen.
Wer JUGEND und Freundlichkeit der Welt braucht, besorge sich dieses Buch, streiche mit der flachen Hand darüber, zeichne sich seine eigene Karte, schnüre die Schuhe, verrate niemanden, wohin die Reise geht und verlässt ohne Gepäck die Stadt. Nicht ohne vorher „Tschick-u-Tschacka-Freundesland“ geschrien zu haben! Das meine ich ernst. Here we go. Wohin? Dorthin, wo ich noch niemals war.
„Der Fahrer war eindeutig ein Wahnsinniger, aber alle anderen, die uns begegneten, waren es auch.“ (Frank Böttcher)
„Ich zehre von dieser Reise bis heute.“ (André Nickl)
Unerkannt durch Freundesland, Illegale Reisen durch das Sowjetreich. Cornelia Klauß und Frank Böttcher (Hg.), Lukas Verlag, 2011
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