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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
Mit dem Schnee fing es an. Als er am Morgen in dem kalten Zelt aufstand und den Schnee sah, fühlte er sich so gut wie noch nie in diesen Wintermonaten. Wochenlang hatte es nur geregnet, und beim Anblick des Schnees hatte er das Gefühl, alles würde sich ändern und doch noch gut werden.
Am 29. September kam das Schreiben per Boten in den Briefkasten meines kleinen Buchladens. Die Kündigung innerhalb von drei Monaten. Nach einem weiteren großen Schreck in diesem nicht gerade ruhigen Jahr beschlossen mein Freund und ich, dass es reichte. Zehn Jahre mit einem kleinen Online-Antiquariat bedeuteten vor allem eine hohe Aufmerksamkeit. Pflege des Bestandes, tägliches Verschicken einer nicht vorauszusehenden Anzahl von Büchern – und schlimmer, von Päckchen und Paketen, ständiges Kontrollieren von E-Mails und Anfragen, Nachschubsorgen und beständige Rechnereien. Erleichterung machte sich breit, alles würde sich ändern.
Seit fünfzehn Tagen hatte er von seiner Freundin nichts mehr gehört, aber als er aus dem Zelt lugte, wußte er, daß heute ganz bestimmt ein Brief kommen würde. Nichts ersehnte er so sehr wie Briefe von ihr, und der Schnee machte ihn glücklich und gab ihm die Gewißheit, daß sie schreiben würde.
Wir erhandelten eine Fristverlängerung bis Ende Januar und ich fing an, alles zu kündigen. Strom, Gas, W-LAN, Verpackungsgesellschaft, Versicherung und Gewerbe. Mit jedem Tag, der verging, wurden wir fröhlicher beim Anblick der vollen Regale, in denen sich 16.000 Bücher türmten. Die einstellige Gradzahl der beiden kleinen Räume in den Wintermonaten erschien nicht mehr als endlose Drohung, sondern als endlich. Wenn der erste Schnee fiele, wären wir frei.
Nicht ein Brief, sondern zwei waren für ihn gekommen. Er nahm sie in Empfang, und als er durch den Schneematsch zu seinem Zelt watete, musterte er die Poststempel und las die Namen der Absender. Mit Herzklopfen setzte er sich auf sein Feldbett und schlitzte den quadratischen rosa Umschlag auf. Das war er – der Brief von ihr. Doch als er ihn las, blieb ihm das Herz stehen, das Blut gefror ihm in den Adern, sein Fleisch schien zu schmelzen, und ihm war, als hätte es ihm die Schädeldecke weggerissen. Er spürte ein Brennen in den Augen, und seine Hände zitterten. Es war ein Abschiedsbrief.
Wir nahmen das Weihnachtsgeschäft mit und verkauften sagenhafte 285 Bücher, dann schalteten wir den Bestand OFF. Kurz vor Silvester luden wir Freunde zum Ausverkauf, zwei Antiquare stöberten und es sind immer noch mehr als 15.000 Bücher, die jetzt auf einer Versteigerungsplattform ihrer Zukunft harren. Ich habe die tapferen Pflanzen (eine Aloe Vera, ein Gummibaum), die im Fenster des Ladens aller Ratio zum Trotz überlebt hatten, nach Hause befördert, in das grüne Zimmer, welches noch vor Kurzem meinem Sohn gehörte. Es bleibt das Regale Abbauen und Abschiednehmen, auch vom Titel meiner piqs. Jetzt heißt es, in Bücherboxen und Hauseingängen stöbern.
Er trank und trank, bis die Flasche dreiviertel leer war. Dann suchte er in seinem Kleidersack nach dem Patronengurt. Er wühlte sich durch verhedderte Unterwäsche und sonstigen Kram, doch konnte er ihn nicht finden. Während er vornübergebeugt dastand, wurde ihm schwindlig. Er richtete sich auf, und das Zelt drehte sich vor seinen Augen. Er lachte. 'Mensch', sagte er, 'ich bin sternhagelvoll.'
Die falsche Sanftmut des Schnees ist das autobiografisch geprägte Debüt des amerikanischen Schriftstellers Robert Lowry, welches 1946 unter dem Titel 'Casualty' in New York und 1998 in meiner Fischer-Taschenbuchausgabe erschien, die 131 Seiten umfasst. Es ist Winter auf der Ebene von Foggia, wo die Alliierten Truppen im Januar 1945 stationiert sind und der Obergefreite Joe Hammond im Pressebüro mit sinnfreien Aufgaben beschäftigt ist. Der kurze Roman endet konsequent fatal, eine der wenigen Rezensionen von 1996 lobt das Buch und erzählt Lowrys ungewöhnliche Biografie. Ich war vor einigen Jahren auf das Nachfolgewerk des exzentrischen Vorläufers und Vorbilds der Beat-Generation gestoßen, den Boxer-Roman Tag, Fremder und freute mich sehr, als ich kürzlich in einer Bücherkiste sein Debüt entdeckte. Gegenüber dem Dickicht seltsamer später Ansichten und seiner traurig-trunkenen Einsamkeit funkelt Lowrys Erstling wie frischer Schnee.
Dann trank er noch einen Schluck, und jetzt war er wirklich betrunken. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, daß er zu betrunken war, um noch gehen zu können. Geschweige denn, Wache zu schieben. Es war ihm egal. 'Zum Teufel mit denen', sagte er und starrte auf seine Hände. 'Zum Teufel mit ihnen allen. Sollen sie doch alle zum Teufel gehen.' Er legte sich hin. Leckt mich doch alle am Arsch, dachte er und begann zu schnarchen.
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