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Literatur

Les cahiers d'Esther – Histoires de mes 13 ans

Les cahiers d'Esther – Histoires de mes 13 ans

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtFreitag, 21.06.2019

Mit seiner Esther-Serie schafft Riad Sattouf etwas, wovon man aus Autor nur träumen, und was man als Vater von Pubertierenden vergessen kann: radikale Zeitgenossenschaft, ohne sich anzubiedern. Als Vater wird man ja ständig darauf hingewiesen, daß man mit der „Gegenwart“ nichts mehr zu tun hat („DU willst ein Podcast machen???“) und als Autor braucht man ein wenig Abstand zum Zeitgeschehen, die Dinge müssen sich ja erst setzen, bevor man ihnen die Ehre antut, sie literarisch zu behandeln. Gerade ist der vierte Esther-Band erschienen, in dem Esther 13 Jahre alt ist, mit Folgen, die zwischen Oktober 2017 und Oktober 2018 im Nouvel Observateur veröffentlicht worden sind. Nach eigener Auskunft telefoniert Riad Sattouf wöchentlich mit dem Original, der Tochter eines Freundes, und macht aus deren Erzählungen über ihr Leben eine neue Esther-Folge. Als langjähriger Spezialist für Jugendlichkeit hat er einen liebevollen, neugierigen Blick auf die Welt der Jugendlichen, die sich nicht vorstellen können, daß die Erwachsenen irgendetwas von der Realität (es gibt nämlich nur ihre) verstehen. (Als ihr Vater ihr betreten berichtet, daß „Johnny“ tot ist, erschrickt sie erst, weil sie denkt, es sei Johnny Depp gemeint, aber dann ist es nur Johnny Hallyday: „Ma grand-mère était amoureuse de lui dans sa jeunesse.“) Je älter Esther wird, umso mehr fließt vom politischen Zeitgeschehen in die Folgen ein. Sattouf ist hier auf eine Goldgrube gestoßen, denn der Jugendlichenalltag wirft laufend kleine Dramen ab und die Möglichkeit, das große Geschehen aus einer anderen als der offiziellen Nachrichtenperspektive zu erzählen. Für mich ein Rätsel, wie er es schafft, die Welt der Jugendlichen, die er sich nur mündlich beschreiben läßt, graphisch so genau und charakteristisch darzustellen.

Bei Esther handelt es sich zudem um eine eigenständige, originelle Persönlichkeit, sie ist sehr sympathisch (zum Geburtstag wird ihr diesmal von einer ahnungslosen Freundin ein früherer Esther-Band geschenkt, ein Comic über ein Mädchen, mit dem man gerne befreundet wäre: „Tu vas voir c'est trop choquant et drôle la meuf DÉTESTE les garçons, ça fait trop plaisir.“) Trotz ihrer seltsamen Faszination für Gruselgeschichten, bei denen sie die Angst manchmal überwältigt, wirkt sie unerschütterlich, auch da sie ihre Familie liebt, und das, was uns zusetzt, für sie noch nicht die Realität ist, mit der sie leben werden muß, sie steht sozusagen drüber. Es gibt auch wichtigere Dinge als Wahlen, zum Beispiel, daß es Zeit ist, daß sie ihren „appareil“, also eine Zahnspange bekommt (auf dem Cover macht sie ein Selfie mit ihrer Zahnärztin: „Une femme sublime et drôle malgré son métier répugnant“). Sie bekommt einen Schock, als sie ihre Lieblingslebensmittel mit einer neuen App darauf prüft, ob sie gut oder schlecht für sie seien. Ihr Alltag wird noch von der Schule bestimmt, Sattouf hat ein diebisches Vergnügen daran, die Hackfressen der Mitschüler (vor allem der Jungs) zu karikieren. Einerseits ist die Welt der Jugendlichen von heute ja vollkommen anders als früher, andererseits eben wieder nicht. Es gibt ein geradezu archetypisches Klassenfoto mit Erläuterungen: „Moi, Eva et Léa en mode 'on sourit pas'“ oder „Les sans-amis de la Classe: Tom et Henri“ oder „La prof de français, elle se croit en shooting (MDR)“ (ich nehme an, das immer wiederkehrende „MDR“ heißt „mort de rire“. Überhaupt gibt es wieder viel abgekürzten und umgedrehten Wortschatz zu lernen). Sie ist nach wie vor angewidert von den Jungen, bzw. inzwischen auch Männern, die ihr nachpfeifen. Sie bekommt Gewissensbisse, weil sie im Wald einen jungen Jäger schön findet („comment pouvait-il aimer donner la mort en étant aussi sublime?“) Und sie registriert einmal mit Erstaunen, als ihr älterer Bruder plötzlich freundlich zu ihr ist, es tut sich also etwas zwischenmenschlich.

Sie bestürmt ihren Vater, zu ihrem Geburtstag nicht bowlen gehen zu müssen und auch keine Bar für ihre Freunde zu mieten, um dort zu tanzen: „Personne ne dansera. Plus personne ne danse au collège. [..] Ils viendront et feront que regarder leur téléphone, parce que c'est le seul truc qu'ils aiment faire.“ Sie entwickelt plötzlich eine innigere Beziehung zu ihrer Mutter, als sie feststellt, daß diese einen blöden Job hat und (genau wie sie!) die Tage bis zum Urlaub zählt, weil sie am liebsten nichts tut: „Depuis, ma mére et moi, on est trop en mode 'complicité' sur ce sujet et on se comprend trop.“ Sie erstellt eine Liste von angenehmen Berufen, die für sie in Frage kommen würden (Ferientester, Telefontester, Pizzatester, „diskreter Milliardär“ und Jungenerzieher: „Damit es immer weniger Rüpel auf der Welt gibt.“)

Im Urlaub in Frankreich, der bei mir hauptsächlich dem Einkaufen von Comics dient, habe ich mir diesen neuen Esther-Band gekauft und ihn gleich verschlungen. Beim Abflug am wunderschönen Flughafen von Montpellier bekam ich im Wartebereich einen kleinen Schock, weil mir gegenüber Lewis Trondheim und seine Frau saßen. Warum auch nicht? Er wohnte ja in Südfrankreich und reiste viel. Die Brille, dieser intensive Vogelblick, die Halbglatze, es paßte alles. Ich grübelte, wie das Buch über eine radikale Schulreform hieß, das er mit Mathieu Sapin gemacht, und das ich besprochen hatte, der Titel wollte mir nicht mehr einfallen und ob ich ihn auf seine sensationellen Les petits riens“ ansprechen sollte, diese mir ästhetisch so nahe Mikroliteratur? Vielleicht war er gerade im Begriff, eine neue Folge zu „erleben“? Und ich war ihm durchs Bild gelaufen? Seine Frau stand auf und ließ ihn alleine zurück, er widmete sich sofort seinem Handy (natürlich, ein Lewis Trondheim darf das, er ist so ein begnadeter Gadget-Nerd, bei ihm kommt selbst da noch etwas Brillantes heraus.) Aus seinen Büchern war er mir nicht gerade als leutseliger Menschenfreund bekannt, es konnte ihm nur unangenehm sein, wenn ich ihn loben würde, vielleicht würde er mich sogar beschimpfen, wenn es mir nicht gelänge, ihm nachzuweisen, daß mein Lob aus berufenem Munde kam und ihm etwas bedeuten sollte. Aber würde ich an seiner Stelle nicht auch lieber in Ruhe gelassen werden? Am Kiosk hatte ich mir den „Nouvel Observateur“ gekauft, um die neue Folge von Riad Sattoufs „Esther“-Serie zu lesen, die dort immer auf der letzten Seite erscheint. Er mußte gesehen haben, daß ich sie las. Das war mir sofort unangenehm, es mußte ihn doch beleidigen, wenn ich in seiner Gegenwart die Konkurrenz las? Diesmal ging es um einen französischen Rapper namens Heuss l'enfoiré und seinen Song „Khapta, den Esther nicht aus dem Kopf bekommt, obwohl es doch seltsam ist, wenn sich ein Sänger „der Beschissene“ nennt. Mit zwei Mitschülerinnen diskutiert sie, ob der Text (es geht um Frauen, Autos, Geld) „links“ oder „rechts“ sei. Die erklärte Rechte hält ihn für links (weil gekifft wird und weil so getan wird, als müßte man Sauereien tolerieren, weil es sich ja um Kunst handle) und umgekehrt (weil das Anbeten von Geld und Frauenfeindlichkeit rechts seien.) Diese Folge, in der Esther schon 14 Jahre alt ist, wird aber erst im nächsten Band erscheinen.

Ich war noch nicht ganz fertig mit der Folge, als Trondheim aufstand und in perfektem Deutsch einen deutschen Familienvater begrüßte, der neben mir stand. War das etwa auch ein Comickünstler? Und woher konnte Trondheim so gut Deutsch? Im Grunde hatte er gar keinen Akzent! Davon hatte er in „Les petits riens“ bisher noch nie etwas geschrieben. Tatsächlich war dieser Trondheim sogar deutscher Muttersprachler, denn es war natürlich gar nicht Lewis, sondern irgendjemand, der ihm, sicher ohne es zu wissen, extrem ähnlich sah (was Trondheim bestimmt interessieren würde.) Ich war erleichtert, daß ich ihn nicht angesprochen hatte, aber auch ein bißchen, weil ich, wenn er es gewesen wäre, traurig gewesen wäre, wenn ich ihn nicht angesprochen hätte.

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