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Volk und Wirtschaft

Die USA, ein spätes "Sowjetamerika"?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlFreitag, 06.09.2024
Vor etwa 2 Monaten hatte Rico Grimm hier auf forum.eu einen interessanten Essay von Niall Ferguson empfohlen. Dieser hatte auf "the free press" den Zustand der heutigen USA mit der absterbenden Sowjetunion verglichen, unter dem Motto:
Eine Regierung mit einem dauerhaften Defizit und einem aufgeblähten Militär. Eine falsche Ideologie, die von Eliten vorangetrieben wird. Schlechte Gesundheit unter gewöhnlichen Menschen. Senile Führer. Kommt dir das bekannt vor?
Nun antwortet in der NZZ der russische Ökonom und Putinkritiker Wladislaw L. Inosemzew auf N. Ferguson. Er reagiert dabei nicht immer direkt auf die Vergleiche von Ferguson und übersieht auch etwas die von diesem genannten Unterschiede. Und doch ist die Sicht des "gelernten" Russen auf den Westen und die Sowjetunion interessant.
Er warnt vor der im Westen verbreiteten "Weltuntergangsstimmung" angesichts der Offensiven der globalen Gegenspieler und der wachsenden Zahl der Konflikte. Die angebotenen historischen Parallelen, die die heutigen Prozesse erklären sollen, um gleichzeitig vor deren zukünftigen Folgen zu warnen, scheinen dabei oft als Zweckkonstruktionen. Dabei werden angesichts des aktuellen rasanten Aufstiegs Chinas und der Aggressionen Russlands die damaligen sowjetischen Erfolge überschätzt. Man neige dazu 
die dramatischen und offensichtlichen Unterschiede zwischen der Sowjetunion und dem heutigen Westen zu vernachlässigen, indem … [man] sich auf formale Ähnlichkeiten konzentrier[t].

So sei das sowjetische Plansystem während der gesamten siebzig Jahre seines Bestehens nicht in der Lage gewesen, mit der technologischen Revolution der industrialisierten Welt Schritt zu halten. 

Mehr als 2000 Fabriken wurden in der UdSSR vom Ende der Zwanziger bis zum Anfang der siebziger Jahre von westlichen Unternehmen errichtet und keine einzige von einheimischen Spezialisten. Kein neues Konsumgut kam auf den sowjetischen Markt, bevor es nicht in den USA eingeführt worden war. Die sowjetische Volkswirtschaft war nicht von ökonomischen Zielen angetrieben; sie unterdrückte die Privatinitiative und schuf Bedingungen, die Wert vernichteten und nicht schufen, da viele sowjetische Produkte letztlich weniger kosteten als die für ihre Herstellung verwendeten Rohstoffe.
Ebenso steht es mit dem Vergleich der sowjetischen «weichen Budgetrestriktionen» im öffentlichen Sektor mit den heutigen westlichen Haushaltsdefiziten.

So war die UdSSR zwischen 1945 und 1991 zwecks Konfiskation privaten Reichtums gezwungen
mindestens drei «Währungsreformen» [durchzuführen] und im gleichen Zeitraum zweimal ihre inländischen Anleihen …[«zu annullieren»]. Das Land war streng genommen permanent bankrott. Darüber hinaus zwang die sowjetische imperiale Ambition der Globalisierung des Kommunismus den Kreml, Dutzende von Milliarden Dollar in seine nutzlosen Satelliten zu investieren, während der von den USA betriebene Welthandel Billionen in die amerikanische Wirtschaft fliessen liess. Nur schon dieser Unterschied erklärt, warum die Sowjetunion niemals zu einem globalen Hegemonen geworden ist.
Der permanente dramatische "Unterkonsum" der Bevölkerung ermöglichte dem Staat enorme Summen für Rüstung oder die «Eroberung des Weltraums» sowie für riesige, aber ineffiziente Industrie- und Infrastrukturprojekte auszugeben. So schätzt man:
Auf Seiten der UdSSR wird der Anteil der Rüstungs- und Militärausgaben am Staatshaushalt auf 19 bis 33 Prozent taxiert, wobei die Aufwendungen inflationsbereinigt zwischen 1965 und 1988 verdoppelt wurden. […]. Tatsächlich soll die Sowjetunion rund 15 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts Jahr für Jahr in das Militär investiert haben. In den USA waren es dagegen nur sechs Prozent, in der Bundesrepublik drei und in Japan eins.

Hinzu kamen lt. dieser Quelle die Transferzahlungen der Sowjetunion an seine Verbündeten in Osteuropa. Die schwollen u.a. zwischen 1975 und 1981 von 5,3 auf 18,6 Milliarden Dollar an. Das Volk der UdSSR hatte sicher die naive Hoffnung, dass die Politik ihrer Führer irgendwann den zukünftigen Generationen zugutekomme.

Tatsache bleibt hingegen, wie es Inosemzew formuliert: 
Das sowjetische kommunistische Modell zerstörte systematisch und über die Generationen hinweg den Willen zur Produktivität, während das amerikanische kapitalistische Modell bis heute einen ständig wachsenden Drang nach Innovation, Wachstum und Erfolg erzeugt. 
Ich würde es nicht ganz so idealisiert formulieren. Die Amerikaner sind durchaus der Versuchung erlegen, die billigen Waren aus China zu genießen und eigene Industrien dafür herunterzufahren. Oder sie glaubten, durch riskante Finanzspekulationen schnellen Reichtum zu erlangen. Der Drang nach Innovation, Wachstum und Erfolg ist also auch dort keine sichere Konstante.

Und so arbeitet sich Inosemzew an weiteren Vergleichspunkten ab, nicht immer in der gebotenen Tiefe. Was man aber in einem Artikel nicht erwarten kann. So etwa, was die Militärmacht betrifft:
Im Irak übertraf die amerikanische Militärmacht sowohl 1991 als auch 2003 jene des Gegners dramatisch – und nicht anders wäre es, wenn die Nato beschliessen würde, den «Wüstensturm» im Donbass zu wiederholen. Die sowjetischen Waffen waren nie besonders effektiv: Dafür gibt es zahllose Belege, vom arabisch-israelischen Krieg 1973 bis zum sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979, so dass es wenig Grund zur Annahme gibt, dass mit den militärischen Fähigkeiten des Westens grundsätzlich etwas im Argen liegt.
Was den Vergleich von Ideologie und Gesellschaft betrifft, macht der Autor klar, dass
die Sowjetunion keine Nation im modernen Sinne war, sondern eine Art Patchwork-Imperium, das aus «nationalen Republiken» und «autonomen Einheiten» bestand. 
Und die, sobald die Gelegenheit da war, versuchten unabhängige Nationalstaaten zu werden. Wohingegen sich die Amerikaner wohl mehrheitlich als eine Nation verstehen. Bei all ihren Problemen mit Integration und Zuwanderung.

Inosemzew argumentiert auch dagegen, die aktuell verbreiteten "links-woken Ideologien", mit der erzwungenen kommunistischen Staatsideologie zu vergleichen.
Die heutige Linke im Westen geniesst eine Gedanken- und Redefreiheit, wie es sie im Mutterland des Kommunismus nie gegeben hat. Sie entwickelt und verbreitet ihre Gedanken in Konkurrenz zur konservativen Rechten, die bei den Wahlen die Oberhand gewinnen könnte, so dass es sich beim linken Aufbruch um ein vorübergehendes Phänomen handeln könnte.
Das sollten wir nie vergessen, es ist der wesentliche Kern der Demokratie. 
Die USA, ein spätes "Sowjetamerika"?

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Kommentare 3
  1. Rico Grimm
    Rico Grimm · vor 3 Monaten

    Guter Pick, Thomas, schönes Ping Pong, das wie hier spielen. Achim, macht ja unten direkt weiter. Jetzt aber muss ich den Text mal lesen.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Monaten

      Durch die verschiedenen Perspektiven lernt man am besten, meine ich ….

  2. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 3 Monaten · bearbeitet vor 3 Monaten

    Ergänzend sei dieser Artikel von Gustav Seibt empfohlen, den man mit vielen Bibliotheksausweisen lesen kann:
    https://www.sueddeutsc...
    Hier eine Zusammenfassung:
    https://www.perlentauc...

    Beschäftigungen mit dem Untergang von Imperien sind wahrscheinlich die Regel in Umbruchszeiten.
    Edward Gibbons heute klassisches Werk über den Verfall und Untergang Roms war eines unter vielen. Es erschien 1788 - ein Jahr vor dem Beginn der großen Revolution der Franzosen. Eine Zeit, die im 20. Jahrhundert Reinhart Koselleck suggestiv als "Sattelzeit" charakterisierte.
    https://www.projekt-gu...

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