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Zeit und Geschichte

"Der antikoloniale Diskurs leugnet vier historische Tatsachen"

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerMittwoch, 12.10.2022

Dieser Text liegt quer zur aktuellen Debattenlage über Kolonialismus und Restitution. Er ist am Montag als Aufmacher im Feuilleton der FAZ erschienen und steht online in der Rubrik "Debatte" (dummerweise hinter einer Bezahlschranke):

Egon Flaig, emeritierter Professor für Alte Geschichte der Universität Rostock, verdächtigt "Therapeuten, Theologen, Aktivisten und Anwälte" mit dem Schlagwort der "historischen Gerechtigkeit" einen Kampfbegriff geprägt zu haben, vor dem die Geschichtswissenschaft kapituliert habe.

Der Begriff fuße auf folgenden drei Dogmen: "Die Europäer hätten den Kolonialismus errichtet, sie hätten den Rassismus erfunden, und sie hätten die Sklaverei gebracht." Allerdings sei historische Gerechtigkeit nicht ohne historische Wahrheit zu haben, hält Flaig fest. Vier entscheidende Tatsachen würden derzeit geleugnet. Welche das sind? Das steht in seinem Text.

Flaig beschreibt auch, wie schwierig es ist, den Begriff der historischen Gerechtigkeit überhaupt präzise zu fassen. Hier ein konkretes Beispiel aus seinem Text:

Als vor wenigen Monaten das Horniman Museum in London so­wie die Universitäten Oxford und Cambridge beschlossen, Kunstwerke aus Benin dem nigerianischen Staat zu übereignen, protestierte eine afroamerikanische „Restitution Study Group“: Eine solche „Repatriierung“ bereichere just die Nachfahren der Versklaver und der Sklavenverkäufer und demütige die Versklavten erneut: „Nigeria und das Königreich Benin haben sich nie für das Versklaven unserer Vorfahren entschuldigt. Sie zeigen keine Reue und erheben den Anspruch, Opfer zu sein.“

Die großen Fragen, die Flaig stellt, lauten etwa: Wie lässt sich über die Vergangenheit sinnvoll urteilen? Welche Verantwortung tragen spätere Generationen? Wie viel Schuld laden Gesellschaften auf sich, die nicht sonderlich über Moral nachdenken?

Andererseits kann man fragen: Ist es nicht auch eine historische Errungenschaft, dass wir uns ein Urteil über vergangenes Unrecht bilden können?

Ich weiß nicht, ob Flaig diese Frage nicht vielleicht sogar bejahen würde. Ihn stört jedenfalls eine "pseudoreligiöse Ideologie, wonach das Eingeständnis von Schuld einen moralischen Neubeginn be­wirke". Aber gibt es solche Erlösungsfantasien wirklich?

Sein nicht ganz leichter Text wird sicher auf Widerspruch treffen, zumal Egon Flaig eine Resolution des Deutschen Historikertages 2018 kritisiert – und damit eine Vielzahl seiner Kollegen. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. 

Hier gehts zur Blendle-Fassung, die dort zumindest für einige Tage abrufbar ist.

"Der antikoloniale Diskurs leugnet vier historische Tatsachen"

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Kommentare 23
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor fast 2 Jahre

    Eine (zugegeben nur ausschnittsweise) Bewertung der wissenschaftlichen Leistung von Egon Flaig geben Rezensionen zu seinem Buch „Weltgeschichte der Sklaverei“: www.piqd.de/zeitgeschi...

  2. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor fast 2 Jahre

    Zur Cancel Culture habe ich einen Artikel über das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gepiqt: www.piqd.de/wissenscha... Er handelt nicht nur von der Wissenschaftsfreiheit an sich, sondern auch der Meinungsfreiheit der Akteure in Forschung und Lehre.

    Und: Egon Flaig wird dort als ein angebliches Cancel-Culture-Opfer nicht verschont.

  3. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor fast 2 Jahre · bearbeitet vor fast 2 Jahre

    Es gibt eine Fortsetzung der Debatte (ZEIT und FAZ, leider mit Paywall):

    Ende Oktober 2022 erschien von Rebekka Habermas „Europa am Pranger“ www.zeit.de/2022/44/ko... . Sie wirft dem Althistoriker Egon Flaig eurozentrischen Provinzialismus vor. „Unsäglich ist schließlich die Behauptung, ‚die heutigen Afrikaner wären weiter überwiegend Sklaven, wenn Briten und Franzosen nicht interveniert hätten‘. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Moralisierung, sondern darum, ex post Dankbarkeit einzufordern. Und zwar denen gegenüber, die die massenhafte Versklavung und Verschiffung der Bevölkerung Afrikas nach Amerika organisiert und vor allem davon erheblich profitiert haben.“
    Flaig diffamiere Forschungen, die sich mit der Geschichte begangenen Unrechts beschäftigen und werfe ihnen pauschal – ohne freilich Autoren und Autorinnen oder Titel zu nennen – vor, mit Begriffen des historischen Unrechts zu operieren.

    In seiner Replik Anfang dieser Woche www.faz.net/aktuell/fe... schreibt Flaig, Habermas ignoriere mit dem „Geschlängel ihrer Widerworte“ sein Thema, die Kritik des Begriffs „Historische Gerechtigkeit“, und verstoße „mit grotesker historischer Entdifferenzierung“ z. B. zwischen Sklaverei und Leibeigenschaft „gegen alle Regeln soziologischer Kategorienbildung“. Sie leugne historische Tatsachen, die durch maßgebliche Studien belegt seien. Dieses „naive Bestreiten“ gehöre zur „kollektiven Identitätskonstitution“.
    Flaig nennt zwar Quellen, zitiert aber keine Aussagen zu Fakten oder deren Bewertung. Er verliert sich in einer philosophischen Auseinandersetzung zwischen Historie und Gedächtnis/Gedenken und liefert eine Rückblende auf den (muss heißen:) 1986er Historikerstreit. Seine Mission sieht er darin, sich „universitär legitimierten Unwahrheiten entgegenzustemmen und sie als das zu bezeichnen, was sie faktisch sind: fake history“.

    Der Streit bleibt spannend. Ich frage mich, ob es überhaupt eine Historiographie „aus reinen Fakten“ geben kann, von ihrer Bewertung völlig losgelöst, oder diese nicht immer im Kontext universeller Werte und nationaler Identitäten zu sehen sind. Und sofern mehrere Nationen betroffen sind, wäre die logische Konsequenz, dass sich Historiker an einen Tisch setzen müssen, wie ich das auch in die vorangegangene Diskussion eingebracht hatte.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre

      Ich empfehle selber lesen:
      Joseph Ki-Zerbo: Die Geschichte Schwarz-Afrikas
      Tidiane N'Diaye: Der verschleierte Völkermord
      Egon Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei

    2. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor fast 2 Jahre · bearbeitet vor fast 2 Jahre

      @Thomas Wahl Selber lesen ist immer gut. Ich werde es wohl realistisch betrachtet in diesem Leben nicht mehr schaffen.
      Nach meiner Auffassung gehören Beiträge wie der von Flaig im Oktober nicht in eine Tageszeitung, sondern zuerst in Fachmedien und auf Konferenzen. Und wenn es dann die Presse sein soll, bitte in einer für einen breiteren Leserkreis verständlichen Form.

      Zu Flaigs Intention schrieb Habermas:
      "Im Kern empört er sich darüber, dass es – so seine Wahrnehmung – bei den Debatten der letzten Jahre, die sich mit historischer Sklaverei beschäftigen, nur noch um 'historische Gerechtigkeit' gegangen sei. Dass dieser Begriff jedoch in der Geschichtswissenschaft ein problematischer Begriff ist, wird bereits im Proseminar gelehrt. Egon Flaig, selbst ein schon emeritierter Professor, scheint die Frage nach historischer Gerechtigkeit bis heute – auch jenseits der Proseminare – umzutreiben."
      Zu diesem Statement aus der altehrwürdigen Uni Göttingen hat Flaig offenbar eine diametral entgegengesetzte Position, die ich bereits oben wiedergab.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre

      @Lutz Müller Flaig hat sich nicht über die Debatten in der Geschichtswissenschaft empört. Die finden dort offensichtlich gar nicht in dieser Richtung statt. Aber das Thema gehört unbedingt in das Feuilleton. Dort wird es auch ständig diskutiert. Ziemlich unbeleckt von historischen Kenntnissen. Aber mit starkem moralischen Impetus. Und dazu hat er geschrieben.

    4. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor fast 2 Jahre · bearbeitet vor fast 2 Jahre

      @Thomas Wahl Cancel Culture kann allenfalls das Hausrecht zur Streitvermeidung durchzusetzen, aber weder Streit unterdrücken, noch ihn beilegen oder zu einer konstruktiven Lösung führen.

      Flaig versucht, über das Feuilleton sein Thema, die Kritik des Begriffs „Historische Gerechtigkeit“, zu pushen. In der Geschichtswissenschaft ist dieser Begriff nach Habermas‘ Ansicht und vermutlich auch in den Augen anderer Historiker problematisch. Wie soll nach Flaigs Replik in ihrer herablassenden und beschämenden Art eine Debatte zustande kommen? Und bis heute wissen wir nicht, welche Position die Geschichtswissenschaften der früheren „moralisch inkompetenten Kulturen“ zum Sachverhalt vertreten. Aus Zeitgründen kann ich dazu keine Recherchen anstellen. Mein Kommentar zu dem ersten FAZ-Artikel gab insofern die persönlichen Eindrücke nach dem Lesen wieder, die zum Teil im Artikel der ZEIT bestätigt wurden.

      Medien könnten im Sinne eines positiven Journalismus versuchen, mit sachlicher Erörterung aller Pros und Cons die Möglichkeiten für einen Dialog auszuloten, falls es nach den scharfen Angriffen überhaupt noch eine Chance dafür gibt.

    5. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre · bearbeitet vor fast 2 Jahre

      @Lutz Müller Cancel Culture kann natürlich sehr viel mehr. Aber es geht doch nicht darum den Streit zu vermeiden. Schon gar nicht in einer Demokratie. Die basiert auf dem fairen Streit, der aber auch den wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen muß. Es geht also nicht um das, was in den Geschichtswissenschaften diskutiert wird, sondern um das was davon in den gesellschaftlichen Diskursen "ankommt". Also das der Begriff "historische Gerechtigkeit" in den Geschichtswissenschaften keine Rolle spielt, das hat damit erst mal gar nichts zu tun und ist kein Argument gegen Flaig.

      Wer wie Frau Habermas den anderen beschuldigt, einem "eurozentrischen Provinzialismus" erlegen zu sein, der muß sich nicht wundern, wenn der etwas ungehalten reagiert. Und wer dann noch als Historikerin noch behauptet, das die Sklaverei "durch Europa in Afrika eingeführt wurde" macht sich selbst als Historikerin eigentlich unglaubwürdig. Und zeigt, das er die entsprechende Literatur und das was Flaig dazu geschrieben hat entweder nicht kennt oder verschweigt.

      Auch das ist Quatsch: "Unsäglich ist schließlich die Behauptung, "die heutigen Afrikaner wären weiter überwiegend Sklaven, wenn Briten und Franzosen nicht interveniert hätten". Dabei handelt es sich nicht nur um eine Moralisierung, sondern darum, ex post Dankbarkeit einzufordern." Er sagt ja im Prinzip, wenn z.B. die Briten damals in Benin nicht interveniert hätten, dann wären die Bronzen heute noch im Besitz der Königsfamilie. Diese hätte aber mit der Versklavung der Nachbarvölker weiter gemacht. Vielleicht bis in die Gegenwart.

      Es ist erst einmal eine Behauptung und eben keine Moralisierung, die Dankbarkeit einfordert. Flaig sagte es so:

      "Die heutigen Afrikaner wären weit überwiegend Sklaven, wenn Briten und Franzosen nicht interveniert hätten. Die „Restitution Study Group“ begrüßt daher die britische Strafexpedition gegen Benin von 1897: „Sie beendete das Verkaufen und das Opfern versklavter Menschen, welche 300 Jahre lang ‚Strafexpeditionen‘ des Königreiches Benin erlitten.“ Vielleicht hätte gar, wie der Historiker Seymour Drescher es 2009 sagte, die Bevölkerung Afrikas sich in mörderischen Genoziden ausgelöscht."

      Man kann das für falsch halten und widerlegen. Aber es moralisch abzublocken, weil man es empörend findet, das ist letztendlich cancel cultur. Auf Sachbehauptung muß man mit Sachargumenten reagieren.

      Und neu ist die Diskussion über historische Einordnung der konkreten afrikanischen Sklaverei auch nicht. Siehe etwa hier:

      https://www.faz.net/ak...

      https://www.theatlanti...

      https://www.faz.net/ak...

      Ich halte das hier für den Kernsatz bei Flaig: "Historische Gerechtigkeit ist nicht zu haben ohne historische Wahrheit." Und daran hat sich jede Diskussion in der Gesellschaft zu orientieren. Tut es aber nicht. Man erfindet seine eigene Geschichte, die das eigene moralisierende Weltbild bestätigt. Glauben und Ideologie, nicht Aufklärung.

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre · bearbeitet vor fast 2 Jahre

      @Lutz Müller In seiner Antwort auf Habermas formuliert Flaig sein Kernanliegen so:
      "Beginnen wir mit einer Trennlinie, die der Althistoriker Alfred Heuß 1959 in seinem Traktat „Der Verlust der Geschichte“ scharf gezogen hat: Geschichtswissenschaft ist etwas anderes als kollektive Er­in­ne­rung. Diese – die Memorialtheorie Jan Assmanns bevorzugt das Wort „kulturelles Gedächtnis“ – ist immer das partikulare Gedächtnis von Gruppen, Gemeinschaften und Völkern; es ist bezogen auf eine konkrete Identität. Es dient der kulturellen Orientierung; es stabilisiert Normen und Erwartungen; und es hilft vor allem, die uns umgebenden Dinge zu bewerten. Es ist konnektiv; es integriert die Individuen in die Sozialdimension und in die Zeitdimension. Dieser Zusammenhalt benötigt eine fundierende Erzählung; Israel be­nö­tigt den Exodus aus Ägypten, die Schweiz den Rütlischwur, das revolutionäre Frankreich den Sturm auf die Bastille.

      Ob solche Narrative historisch wahr sind oder nicht, berührt nicht ihre fundierende Funktion, bremst nicht ihre „Mythomotorik“ (Jan Assmann). Solche memorialen Haltepunkte sind identitätskonstitutiv, verlangen unbefragte Geltung, werden daher tendenziell sakralisiert. Das kollektive Gedächtnis dient mithin dem Leben von Gemeinschaften. Ebendas tut die Ge­schich­­te als Wissenschaft nicht. Sie strebt nach Erkenntnissen. Nur wenn diese sich vereinbaren lassen mit der Memorialkultur, nur dann vermag sie zur Orientierung beizutragen. Als Wissenschaft unterwirft sie sich dem Zwang zur Bewahrheitung."

      Ich würde es noch anders sagen: Nur wenn Memorialkulturen sich möglichst weitgehend an die aktuellen Erkenntnisse der Wissenschaft halten, dann sind die Erinnerungen auch der Realität der Geschichte nahe. Aber alles fließt, auch Erkenntnisse und Erinnerungen.

    7. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor fast 2 Jahre

      @Thomas Wahl Letzterem kann ich nur zustimmen. Allerdings:

      Egon Flaigs Werk zur Sklaverei gründet sich eben nicht umfassend auf den heute vorhandenen Erkenntnissen. Mein erster oberflächlicher Eindruck einer sehr selektiven Heranziehung historischer Fakten wird insbesondere durch Ulrike Schmieders Rezension auf Flaigs Hauptwerk aus 2009 (das bei Beck nun schon seine dritte Auflage erreicht hat) bestätigt. Siehe meinen PIQ, Link oben.

      Welchen Wert können dann vertiefende Betrachtungen über Erinnerung und Gerechtigkeit noch haben?

      Rebekka Habermas‘ Kritik, Flaig falle in einen „beschränkten eurozentrischen Provinzialismus“ zurück, kann man noch einen erheblichen Grad an Höflichkeit abgewinnen. Gemeint ist die Engstirnigkeit, die den Althistoriker gefangen hält.

      Egon Flaigs Replik auf Habermas mit Vorwürfen eines „Wortgeschlängels“ und „naiven Bestreitens historischer Tatsachen“ ist da schon ziemlich beleidigend.

    8. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre

      @Lutz Müller Also, was ich kenne, fußt Flaigs Werk sehr wohl auf breiten aktuellen Erkenntnissen. Die seine Kritiker nicht gern wahrhaben. Insofern sind Kritiken gut und schön, ersetzen aber nicht das selber lesen/denken. Es mag sein, das "die indianische oder afrikanische Sicht" (was immer das ist) fehlt. Ändert aber nichts an den Tatsachen. Ich habe ja bewußt zwei afrikanische Autoren empfohlen. Die stellen Flaigs Inhalte eigentlich nicht in Frage. Was ist den "die afrikanische Sicht"? Die Sicht des Königs von Edo, oder die der Regierung oder der Bürgerkriegsparteien oder, oder. Und erzeugt das andere unbekannte Tatsachen? Sicher ist es immer interessant sich andere Meinungen dazu anzuhören.

      Auch kann man immer mehr schreiben. Nur auch hier, habe ich bei Ulrike Schmieder keine Widerlegung von Flaigs Behauptungen, seiner angegebenen Tatsachen gelesen. Es sind typische schnell geschriebene Meckereien aus einer anderen ideologischen Sicht.

  4. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor 2 Jahren

    Der Autor bezeichnet
    „Nicht zuletzt im Lichte der kolonialen Gewalt, die Europäer in anderen Teilen der Welt ausgeübt haben, gilt es, der gemeinsamen Verantwortung für die Folgen unserer Politik im außereuropäischen Raum gerecht zu werden.“
    als intellektuelle Abdankung - das sehe ich anders. Wenn man es nämlich auf die Gegenwart, d.h. auf europäische Politik im Jetzt bezieht, macht es Sinn.

  5. Jochen Dachboden
    Jochen Dachboden · vor 2 Jahren

    blendle link für alle die keinen faz Account haben:

    https://blendle.com/i/...

  6. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 2 Jahren

    Mit einigen Aussagen des Artikels kann man sich einverstanden erklären. Geschichte lässt sich nicht verrechtlichen, indem man versucht, heutigem Recht eine rückwirkende Geltung zu verleihen. Ein Völkerrecht gab es nicht, nur das Recht des Stärkeren. Ich denke, es ist in der Tat eine Errungenschaft der Zivilisation, dass wir uns ein Urteil über Vergangenes (ob es nun Unheil oder Unrecht war) bilden können.

    Flaigs schwierigen Text habe ich so genau gelesen, wie ich konnte. Mit dem unkommentierten Verweis auf Schefczyk moralisiert er als Vertreter einer „moralisch kompetenten“ Kultur. Das finde ich verabscheuungswürdig. Hat er irgendeinen Historiker, Philosophen aus dem Kreise der „moralisch inkompetenten“ Kulturen zitiert? Wo hat er gelernt, dass die Shoah, während sie geschah, von den meisten Tätern als ein Verbrechen begriffen wurde?

    Der Autor hat sich intensiv mit der Weltgeschichte der Sklaverei befasst und 2009 ein Buch veröffentlicht. Seine Thesen erregten laut https://de.wikipedia.o... teilweise heftigen Widerspruch. Nun greift sie auch der FAZ-Artikel als „Tatsachen“ auf. Ihr Un-/Wahrheitsgehalt kann nur im Diskurs von Historikern, und zwar gemeinsam mit Kollegen aus den ehemaligen Kolonien, aufgearbeitet werden.

    Uns trifft keine Schuld an der Alten Geschichte. Verantwortung als Nutznießer in der n-ten Generation aber haben wir schon. Es ist keine Frage der Haftbarkeit und auch keine Wohltat, wenn den Partnerländern in der Entwicklungszusammenarbeit Perspektiven für bessere Bildung, Ernährungssicherheit usw. gegeben werden. Wie wichtig die Aufarbeitung der Geschichte ist, sehen wir auch am Beispiel von Ländern, die zum Spielball geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen bis hin zur jüngsten Geschichte wurden. Lesenswert zur „doppelten Kolonisierung“ und „Ressourcifizierung“ der Ukraine: www.piqd.de/europa-eu/...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 2 Jahren

      Ich denke, schon die Tatsache, dass die Nazis und die Bolschewiki ihre Vernichtungsmaschinerie sorgfältig verborgen haben, spricht dafür, dass sie wußten, das es Verbrechen waren. In den sogenannten "moralisch-imkompetenten" Kulturen galt Menschenopfern, Unterdrücken oder Versklaven als normal und wurde öffentlich zelebriert. Man kann/ (muß?) natürlich auch das als eine Moral sehen. Insofern ist der Begriff "moralisch inkompetent" sehr unglücklich.

    2. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 2 Jahren

      @Thomas Wahl Ja, er ist zumindest unglücklich. Aber mir liegt die Vermutung nahe, dass er absichtlich aus der Cancel Culture heraus generiert wurde. Sei es, um unsere Überlegenheit den alten Kulturen gegenüber, oder auch im Verhältnis zu zeitgenössischen in Diktaturen, Götterstaaten oder ärmeren Ländern auszudrücken.
      Hitler und seine Propagandisten haben ihre Vernichtungsziele offen in alle Welt hinausgeschrien. Die geistigen und führenden operativen Handlanger wussten über ihre Verbrechen und entzogen sich ihrer Bestrafung vielfach durch Suizid. Die Umsetzung sollte möglichst geheim bleiben, was aber praktisch unmöglich war. Aber dass die Mehrheit der Beteiligten sich als Verbrecher gesehen haben soll? Siehe das „Es reicht“ noch jahrzehntelang in der alten Bundesrepublik.
      Anders wurden der Rote Terror der Bolschewiki, Stalins Säuberungen und die Eroberung oder heimtückische Annexion fremder Länder und Territorien ideologisch nicht als Ziel, sondern als notwendiges Übel oder Notwehr deklariert. Die Schuld mindert das keineswegs, sie wirkt bis heute nach. Viele Menschen gingen mit der Revolution, da sie ihnen, wenn auch keinen umfassenden Wohlstand, doch aber Bildung und Überwindung von Rückständigkeit brachten.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 2 Jahren

      @Lutz Müller Weder Hitler noch seine Propagandisten haben ihre Vernichtungsziele offen in die Welt hinausgeschrien. "Mein Kampf" wurde sicher nicht all zu viel gelesen, aber die, die es lasen haben nur sehr selten darin die Vernichtungslager gesehen. Irgendwann ist natürlich einiges durchgesickert. Aber es war schon ziemlich unglaublich. Auch der Rote Terror wurde in seinen Ausmaßen hinter dem brutalen Bürgerkrieg und danach sorgfältig kaschiert.

      Die Klassifizierung von Michael Schefczyk basiert ja m.E. auch nicht darauf, ob jemand sich persönlich und individuell als Verbrecher sieht, sich individuell schuldig fühlt. Sondern darauf, ob eine Kultur in Kenntnis und Anerkennung der universalen Menschenrechte, des Kant'schen Imperativ Verbrechen begeht. Im Grunde genommen sind danach moralisch kompetente Kulturen viel größere Verbrecher, wenn sie dennoch Morden, als die angeblich nicht kompetenten Kulturen. Aber wie gesagt, ich halte das für eine sehr unglückliche Einteilung. Und je länger ich darüber nachdenke, sie scheint mir nicht wirklich widerspruchsfrei.

    4. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 2 Jahren · bearbeitet vor 2 Jahren

      @Thomas Wahl 1) Vernichtung bezog sich nicht ausschließlich auf die Lager, sondern vielmehr auch auf die Eroberung und Unterjochung fremder Länder, die Versklavung ihrer Unter-Menschen. Die Reden waren so unglaublich, aber besser wäre es gewesen, ihren Wahrheitsgehalt früher zu erkennen. Genau wie im Falle von Putins Krieg. Es gab warnende Stimmen, die Ankündigungen sehr ernst zu nehmen.
      2) Die Kaschierung des Ausmaßes des Roten Terrors und des Holodomors/Golodomors erfolgte, weil es nicht zur herrschenden Ideologie passte. Die Maschinerie zur Vernichtung der zu Nicht-Menschen erklärten Individuen wurde – wie ich das begreife – soweit möglich geheim gehalten, um Unruhen und Reaktionen der Alliierten zu vermeiden.
      3) Dass die Mehrheit der ausführenden Bürokratie und der anderen Täter die Shoa als Verbrechen begriffen, sehe ich nicht. So eine Aussage habe ich zum allerersten Mal gelesen. Es gibt einzelne Täterberichte, die Beteiligung an Verbrechen leugnen. Inwieweit das verallgemeinerungswürdig ist, wird wohl nie zu belegen sein, da es für die meisten Täter tabu war, darüber zu reden. Und weil sehr viele keinerlei (nicht einmal moralische) Schuld sahen. Gibt es anderslautende fundierte Quellen?
      4) Bzgl. der Moralkompetenz warte ich mit Spannung auf Dirks angekündigten Piq.

    5. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 2 Jahren · bearbeitet vor 2 Jahren

      @Thomas Wahl In einem Interview mit der Berliner Zeitung äußerte sich Jewgeni Jewtuschenko vor 22 Jahren zur Besserwisserei von Leuten aus dem Westen (Ausgabe vom 27.05.2000 Seite 13, digital auf Genios).
      Das Zitat betrifft nicht den Kolonialismus allgemein, lehrt uns aber, wie ein Diskurs auf internationaler Ebene, egal auf welchem konkreten Gebiet, geführt werden sollte:

      „Und plötzlich belehrt man Russland, was in Tschetschenien zu tun sei. Was ist das für ein doppeltes Maß? Wissen Sie, wer Russland solche Vorwürfe hätte machen können: Mutter Teresa oder Andrej Sacharow. Und von den Politikern dieser Welt hätte einzig Nelson Mandela dieses Recht. Aber alle anderen hatten kein Recht dazu. Weil sie genau die gleichen Dinge in Jugoslawien unterstützt haben, die Russland in Tschetschenien anrichtet. …
      Hinter jedem Krieg stehen Leute, denen dieser Krieg Vorteile verschafft. Politische oder finanzielle Vorteile, und diese Leute schüren künstlich Konflikte und manipulieren das öffentliche Bewusstsein. Leider funktioniert das immer noch. Ich war einer von denen, die sich gleich am Anfang dieses Tschetschenienkrieges gegen ihn ausgesprochen haben. Ich muss nur einen Augenblick daran denken, dass dort auch Kinder umkommen, dann weiß ich, wie meine Haltung dazu ist. Und wenn ich an unsere Soldaten denke, junge Burschen, denen man vielleicht die Köpfe abschneidet und diese auf irgendeinem Markt als Trophäe ausstellt, dann weiß ich es auch. … Man müsste die Demagogie aus den gegenseitigen Beziehungen eliminieren. Das wäre ein Anfang, wenn politische Verhandlungen damit begännen, dass jede Seite ihre eigenen Fehler erörtert.“

      Worauf sein Gesprächspartner sagt: „Sie sind ein hoffnungsloser Idealist.“

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 2 Jahren

      @Lutz Müller Ich finde, Diskurse sollten und können nie auf Grundlage der moralischen Ab- oder Zuerkennung von moralischen Rechten fgeführt werden. Und schon gar nicht gar nicht mit solchen Kofferbegriffen wie "der Westen". Das führt zu nichts gutem. Was vielleicht funktionieren könnte, das wäre sich vorurteilsfrei auf Fakten und ihre Einordnung/Bewertung zu einigen, es zumindest zu versuchen. Also man müßte z.B. erst mal klären, ob das Agieren der westlichen Staaten in Jugoslawien das gleiche war wie das in Tschetschenien durch Putins Rußland. Immerhin gibt es heute im ehemaligen Jugoslawien eine Reihe halbwegs demokratischer Staaten. Was man von Tschetschenien nicht wirklich behaupten kann. Würde ich jedenfalls sagen.

    7. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 2 Jahren

      @Thomas Wahl Die Diskussion ist nun schon sehr in die Tiefe gegangen. Aber danke für die Replik.
      5) Das Thema war Sklaverei/Kolonialismus. Vorurteilsfrei die Fakten aufgrund von Archiven einordnen/bewerten – ich glaube, da sind wir uns einig. Historiker aus ehemaligen Kolonialmächten und Kolonien sollten unterschiedliche Positionen miteinander offen debattieren, anstelle über Andere zu sprechen. Politiker und Rechtsgelehrte helfen gar nicht.
      6) Ich mag es auch nicht, wenn von „den Amerikanern“, „den Russen“ usw. gesprochen wird. Oft wird auf die vorherrschenden Meinungen, typische Handlungen Bezug genommen. Problematischer wird es, wenn damit eine Anti-Stimmung konnotiert wird. Mit „man“ in Schewtschenkos Zitat waren Institutionen oder einzelne Vertreter der westlichen Staaten gemeint. Es wurde eingeleitet mit den Sätzen: „Der Westen und Russland haben im Fernsehen zwei völlig verschiedene Kriege gesehen. Und beide Seiten hatten nicht Recht…“. Die Formulierung im Kommentar mit Wiedergabe des Zitats habe ich abgeschwächt.
      7) Wenn es um Kriege und Menschenrechtsverletzungen heute geht, darf niemand schweigen, der darum weiß und die Möglichkeit hat, das anzusprechen. Auch direkt bei den Übeltätern, solange die Türen für Gespräche offen sind. Am wertvollsten ist die Unterstützung mahnender Stimmen in den betroffenen Ländern. Weil er gegen den Krieg in Tschetschenien war, hatte Schewtschenko den Orden für Völkerfreundschaft nicht angenommen (war in der UdSSR die zweithöchste Auszeichnung nach dem Lenin-Orden und auch in Russland sehr bedeutsam). Wurden der Dialog über solche Kanäle wie Memorial damals nicht oder zu wenig genutzt?
      8) In Bezug auf die russische Kolonialgeschichte bleibt ebenfalls noch vieles aufzuarbeiten, ich hatte einen Piq zu diesem Thema geschrieben. Ohne elementare demokratische Freiheiten in Russland wird dies absehbar nicht möglich sein.

    8. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor 2 Jahren

      Zu Schefczyk werde ich nächste Woche was piqen ... der scheint mir doch sehr verkürzt wiedergegeben zu sein.

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