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Quelle: Halm, Abendhimmel. Brandenburg (2011)
Geboren 1975 in Hildesheim. Studierte Drehbuchschreiben an der Filmhochschule Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. Ausgedehnte Reisen in den Mittleren Osten, durch Asien und Ozeanien. Lebte ein Jahr in Neuseeland. Fotografiert und schreibt für Berliner Kurier, Der Freitag, Zeit Online. Er lebt mit seiner Familie als freier Autor in Berlin.
In Judith Hermanns Buch „Sommerhaus, später“ gibt es zwei Erzählungen, die in Brandenburg spielen. Zwei Erzählungen, die schonungslose Begleiter für all jene Berliner sein können, die mit dem Gedanken spielen, sich ein Haus in eben diesem Land anzuschaffen. Erzählungen für jene, die wissen, dass sich diese Sehnsucht nach einem Haus zu einem Zwangsgedanken, zu einer Form des Wahnsinns und schließlich zur Realität steigern kann.
Stein – der Protagonist aus der Erzählung „Sommerhaus, später“ - rennt permanent einem Milieu hinterher, dem er nicht angehört. Er wird von der Clique, zu der sich auch die Ich-Erzählerin zählt, akzeptiert, aber bis auf Stein weiß jeder, dass er niemals Teil der Clique sein wird. Da kann er noch so viel Sex mit allen haben, sie noch so bewundern, sie imitieren.
Doch die Clique gibt sich großzügig. Stein ist bei den Ausflügen zu den Datschen in Brandenburg dabei. Dort werden die Dörfler ignoriert, werden Substanzen ausprobiert und Sonnenuntergänge im Geiste Heiner Müllers interpretiert. Stein ist immer da, gehört aber nie dazu – denn, wie die Ich-Erzählerin sagt: „Er bekam ihn nicht hin, diesen spitzfindigen, neurasthenischen, abgefuckten Blick, obwohl er sich darum bemühte.“
Die Angelegenheit kulminiert, als Stein der Ich-Erzählerin das Haus zeigt, das er in Brandenburg gekauft hat. „Er bewegte sein Becken elegant und obszön im Kreis. Er sagte: Come on baby, let the good times roll!“ Doch die Ich-Erzählerin mag das alles nicht, sie friert (es ist Winter) und erschrickt: Das Haus, zu dem sie stundenlang unterwegs waren, ist eine Ruine.
Die Ich-Erzählerin – als würdige Vertreterin ihres Freundeskreises und ihres speziellen Milieus (im Marx-Jahr könnte man zur Abwechslung auch „Vertreterin ihrer Klasse“ sagen) – ändert ihr Verhältnis zu Stein niemals. Es bleibt immer gleich. Sie ist wahnsinnig konsequent und wahnsinnig träge; sie lässt ihn machen. Er saniert und renoviert, während sie ihr kühles Bobo-Leben in Berlin weiterführt.
Stein kapiert leider nicht, dass es die Tür, durch die er will, für ihn nicht geben wird. Weder zu der Clique noch zu dem Herz der Ich-Erzählerin wird er Zugang finden. Er kapiert die feinen Unterschiede nicht, er kapiert seinen „Makel“ nicht: Es ist nicht nur sein Blick, auch alles andere an ihm ist zu wenig abgefuckt, zu wenig neurasthenisch, zu wenig ... Weder zu den Gesprächen über Heiner Müller noch zu denen über Bret Easton Ellis trägt er etwas bei. Als Leser wünscht man sich, dass Stein das erkennt und abhaut, dass er sich emanzipiert.
Steins Blindheit endet in der Katastrophe. Zuerst in einem verbalen Gewaltausbruch dann in einem fulminanten Akt der Zerstörung. Leider ist das keine „Revolution“. Bezeichnenderweise ist es das Wörtchen „wenn“, an dem sich die Ich-Erzählerin maßlos stört. Nein, sogar das ausgebaute Gutshaus in Brandenburg wird nichts an diesen Beziehungen ändern.
Koberling – der Protagonist aus der Erzählung mit dem Titel „Diesseits der Oder“ - ist in einer andere Lebensphase und in einer anderen Lebenssituation als Stein. Ja, auch er hat sein Haus in Brandenburg gefunden. Doch Koberling bewohnt es mit Frau und Kind zur Sommerfrische. Leider umgibt den Mitt-Vierziger ein dunkler Schimmer. Er ist ein Misanthrop, der sich unter der Bedingung in das Haus zurückzieht, dass kein Besuch kommt. Dass er mit seiner Familie für sich bleibt und an seinem Drehbuch herum schreiben darf; aber plötzlich taucht Anna auf. Ein spontaner Besuch. Sie ist mit ihrem Freund (Koberling sagt: "Kiffer") auf der Rückreise von Polen. Klar, das alles bringt ihn zur Weißglut. Aber er muss sich zusammenreißen, weil es seinem Bild von sich selbst entspricht, dass er sich zusammenreißen kann. Und selbstverständlich dürfen Anna und ihr verhasster Kiffer ein paar Tage bleiben - in diesem Haus in Brandenburg. Sie dürfen spazieren, rauchen, trinken, Himbeeren essen etc.
Anna ist die Tochter eines alten Freundes, mit dem Koberling keinen Kontakt mehr hat. Als sie sich erdreistet, ihn zu fragen, warum der Kontakt abgebrochen ist, überschreitet sie eine rote Linie. Koberling muss sich wieder zusammenreißen: „Wir hatten ein paar ganz gute Jahre zusammen, dann haben wir uns immer seltener gesehen und irgendwann gar nicht mehr.“ - Eine mehr als unbefriedigende Erklärung.
Koberling ist bitter geworden, deshalb muss er sich zurückziehen - in sein Haus im Oderbruch. Es scheint als sei Koberling nur ein armes Würstchen, ein unfreiwilliger Misanthrop, der enttäuscht von seinen Mitmenschen ist, weil sie seinen diffizilen Ansprüchen nicht gerecht werden. Leider ist Koberling ohne Humor - sein Zynismus bleibt zahnlos und fade.
So wie Stein den Fehler macht, der Berliner Clique ein Landhaus anzubieten, anstatt sich an die Regeln zu halten und zu verschwinden (sein eigenes Leben zu führen!), macht Anna den Fehler, Koberling etwas zu fragen, auf das er nicht ehrlich antworten will. Erstens, weil er es als Zumutung empfindet, über unangenehme Dinge nachzudenken und auszusprechen, und zweitens, weil das seiner Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit entgegenläuft.
In dem Maße, in dem Stein ein unkluger, arbeitsamer Don Quijote ist, ist Anna eine fragende, aufrichtige Donna Quijota. In dem Maße, in dem Koberling ein kluger, feiger Bequemer ist, ist Steins Angebetete, die das Gutshaus logischerweise verschmähen muss, eine kluge, träge Bequeme.
Passenderweise halten sich unsere beiden Quijotes nur zeitweilig in der Umlaufbahn dieser Bequemen auf. Anna fährt einfach weiter nach Berlin. Stein tut sich selbst Gewalt an.
Ich lege das Buch zur Seite und lege den Kopf zurück. Hoch am Himmel zieht ein Flugzeug vorbei. Der Himmel ist ohne Wolken. Das Flugzeug ist strahlend weiß und rast gen Südwest. Lissabon oder Rio, Madrid oder Dakar ... „Wer weiß“, sage ich leise zu mir selbst. Das ferne Teil schreibt seinen Kondensstreifen auf die blaue, rätselhafte Mattscheibe. Ich wünschte es würde einen Looping machen, hier über Storkow-Finow-Prerow-Landsberg. Doch in diesem Moment beißt mich eine Ameise in den Unterarm und mein Blick fällt auf den Boden, wo die kleinen Biester ihr Unwesen treiben. Dann piept es. Auf dem alten Garagendach, das noch mit DDR-Asbest-Platten eingedeckt ist (Sondermüll), landet ein Rotschwänzchen und beschwert sich, weil ich zu nah an der Tanne sitze, in der es brütet. - Jetzt bin ich in Brandenburg und halte Judith Hermanns ewig junges Buch in der Hand. Jetzt bin ich hier mit Stein und Koberling und Anna und der Ewig-Begehrten. Ich lege das Buch auf den hässlichen Plastik-Tisch der Vorbesitzer, den ich noch wegschmeißen muss. - Welche meiner Freundinnen und Freunde werden hier niemals auftauchen? Für welche Menschen war das Haus denn eigentlich gedacht? Und wer bleibt besser fern und soll verschwinden? Welche Kräfte und Gründe walten? Kräfte, die man so schwer erkennt. Wird man zum glücklichen Mann mit Kind und Kegel und Ameise? War man der blinde Stein? Wird man zum bitter-blöden Koberling? Zur vergeblich fragenden Anna? Zum bequemen, nervenden Ich? Time will tell. In Brandenburg.
+ + Judith Hermann. „Sommerhaus, später“, S. Fischer Verlag,1998 + +
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