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Vor Kurzem ist bei Suhrkamp ein neuer Reader mit Texten von Heiner Müller erschienen. Das ist zunächst einmal eine sehr gute Idee. Ich stand schon ein paar Mal vor der Frage, was man eigentlich von Heiner Müller empfehlen könnte, und es haperte an pragmatischen Antworten. Bis auf ein paar mehr oder weniger repräsentative einzelne Publikationen gibt es derzeit auf dem Buchmarkt vor allem die ebenfalls bei Suhrkamp herausgegebene Werkausgabe – und Werkausgaben sind per definitionem nur sehr selten etwas, das man als Mittel zum Kennenlernen anraten kann. Da wäre eine gute Auswahl, die Heiner Müller wieder zugänglich macht und einen Überblick über seine Produktion verschafft, gerade das Richtige.
Heiner Müller ist für einen Reader auch einer der am besten geeigneten Autoren, weil seine Werkpoetik auf Unabgeschlossenheit setzt. Er wollte seine Texte nicht als “Werke” verstanden wissen, sondern (in Orientierung an Brecht) als “Material”, mit dem in der Rezeption frei umgegangen werden soll. Manche Texte hat er selbst über Jahrzehnte hinweg überarbeitet, Stoffe immer wieder aufgegriffen und neue Arbeiten mit Selbstzitaten versehen. Außerdem hatte er eine Neigung zu weniger umfangreichen Texten und Mischformen, deren Gattungszuweisung nicht immer ganz eindeutig ist. Das erste Buch von ihm, das ich besessen habe, war passenderweise eine Zusammenstellung unter dem Titel Heiner Müller Material, die 1989 bei Reclam Leipzig erschienen ist, in der von kurzen Stücken über Gedichte, Reden und Prosatexte genug enthalten war, um mir zu zeigen, dass ich noch mehr von ihm lesen wollte.
Der neue Reader “Für alle reicht es nicht” ist im Gegensatz zu dieser alten DDR-Ausgabe keine reine Werkschau, sondern thematisch gebunden. Er versammelt Auszüge aus Stücken, Reden, Interviews, Gedichten und Prosa, die in irgendeiner Form vom Kapitalismus handeln. Bis auf eine kurze Notiz sind alle Texte bereits in der Werkausgabe und dem sie ergänzenden Gedichtband Warten auf der Gegenschräge veröffentlicht worden. Die Absicht der Herausgeber ist es, Heiner Müller nicht nur als Klassiker zugänglich zu machen, sondern auch eine Aktualität zu beweisen. Man möchte eine Möglichkeit bieten, an Heiner Müller anzudocken. Um das Material zu erschließen, wurden mehrere erläuternde Texte neben die Müller-Texte gestellt, die einen nicht unerheblichen Teil des Readers ausmachen.
Und damit fangen die Schwierigkeiten an. Es fehlt dem Reader insgesamt sehr die Distanz zu seinem Material. Man hat beim Lesen der Herausgebertexte den Eindruck, nicht nur Heiner Müller vorinterpretiert zu bekommen (und das ist nie gut bei literarischen Texten, die man besser selbst sprechen lassen sollte), sondern auch gleich noch die ganze moderne Gesellschaft. Recht humorfrei wird ein neomarxistisches Standardinventar samt den dazugehörenden Standardreferenzen (von Marx über Benjamin zu Foucault und Deleuze, aber bitte nicht viel weiter) aufgefahren und ungebrochen orthodox dem historischen Materialismus eine wissenschaftliche Gültigkeit zugesprochen. Da bleibt wenig Raum, Heiner Müller wirklich als Material zu begreifen und ihn nach neuen Regeln neu zu lesen.
Man muss ehrlicherweise sagen: Alles, was an den Herausgeberkommentaren platt wirkt, wirkt auch schon bei Müller platt. Aber was Müller so interessant macht, ist auch, dass er zur Selbstironie fähig war, wie man in einzelnen Zitaten sehen kann:
Meine Herausgeber wühlen in alten Texten
Manchmal wenn ich sie lese überläuft es mich kalt Das
Habe ich geschrieben IM BESITZ DER WAHRHEIT
Sechzig Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod
Heiner Müller brauchte ein politisches und historisches Denken, damit er als Dramatiker Tragik greifbar machen konnte. Es musste für ihn um etwas gehen, am besten ums Ganze, darunter war für ihn alles ephemer. Und dafür benötigte er den historischen Materialismus, den ewigen Kampf der Klassen, denn ohne eine utopische Perspektive konnte er nicht an grundsätzliche Konflikte glauben.
Aber ähnlich wie auch bei anderen politisch denkenden Schriftstellern besteht der Reiz bei Heiner Müller nicht in einem elaborierten historisch-philosophischen Standpunkt, sondern in der Literatur, in den lakonischen Formulierungen, seiner avantgardistischen Zitier- und Montagekunst und in seinem Gespür für tragische Konstellationen in der modernen Gesellschaft. Reduziert man diese Fähigkeiten auf politische Anliegen, bleibt die Frage, wozu man etwas in komplex ausdifferenzierten literarischen Formen ausdrücken soll, wenn man es auch mittels eines Leitartikels viel effektiver tun könnte.
Wenn die Literatur die Literatur verlässt, verlässt sie mit der Ästhetik auch ihre Beobachtungsgabe; ihre Fähigkeit, sich selbst zu irritieren. Es lohnt sich, Heiner Müller auszugraben und wieder zu lesen, ja, aber eher nicht wegen Positionen und Stellungnahmen, die man sich aus vielen Quellen so oder so ähnlich beschaffen kann (und die bei Müller vielleicht noch weniger homogen waren als in der Auslegung seiner Rezeption). Wenn mir antiquarisch ein Exemplar der alten Reclam-Ausgabe oder einer der Bände aus der frühen Rotbuch-Werkausgabe über den Weg laufen würde, ich würde zuschlagen. Der Warenwert mag hier ungleich geringer sein, aber der Gebrauchswert ist wahrscheinlich höher als bei der neuen Reader-Ausgabe.
Heiner Müller: “Für alle reicht es nicht”. Texte zum Kapitalismus. Suhrkamp 2017.
Heiner Müller Material. Reclam Leipzig 1989.
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FÜR ALLE REICHT ES NICHT ist der einzige mir bekannte Reader, der einen Gesamtüberblick über das Werk in einem Band gibt!
Die Einführungen stellen ihn im Kontext seiner Zeitgenossen. Und in der von Müller gelesenen marxistischen Tradition. Und es gibt auch - man lese das Kapitel RELIGION - Verbindungen zur Gegenwart, die überraschend sind.
Nee, der Gebrauchswert des neuen Buches ist größer: Im Band MATERIAL gibt es nur knapp über 100 Seiten Texte von Müller, der Rest sind Kommentare von Literaturwissenschaftlern.