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Jochen Schmidt zählte 1999 zu den Mitbegründern der Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten", bei der er bis 2017 wöchentlich auftrat und neue Texte las. Er veröffentlichte Erzählungen ("Triumphgemüse", "Seine großen Erfolge", "Meine wichtigsten Körperfunktionen", "Weltall. Erde. Mensch", "Der Wächter von Pankow"), Romane ("Müller haut uns raus", "Schneckenmühle", "Zuckersand"), Reiseliteratur ("Gebrauchsanweisung für die Bretagne", "Gebrauchsanweisung für Rumänien", "Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland"), eine "Gebrauchsanweisung fürs Laufen" und "Schmidt liest Proust", das Tagebuch eines Lektürejahrs. Mit der Künstlerin Line Hoven arbeitete er für "Dudenbrooks", "Schmythologie" und "Paargespräche" zusammen. Gemeinsam mit David Wagner schrieb er die deutsch-deutsche Kindheitserkundung "Drüben und drüben". Zuletzt erschien der Roman "Ein Auftrag für Otto Kwant".
Wir Eltern sind uns zur Zeit uneins: darf unser Sohn mit fast vier Jahren auf meinem Handy Hörspiele hören? Ich argumentiere, daß die Hörspiele ja eigentlich von DDR-Kinderschallplatten stammen und wir sie lediglich auf Youtube hören, weil der Plattenspieler kaputt ist. Gegen Schallplatten hätte meine Freundin weniger einzuwenden (behauptet sie jedenfalls) aber sie möchte nicht, daß das Handy jetzt schon so eine wichtige Rolle für unser Kind spielt. Wahrscheinlich hat sie recht, aber es ist eben so bequem, und ich muß die kurze Zeitspanne nutzen, in der ich das Kinder-Programm noch selbst bestimmen kann. Ich bin meinen Eltern dankbar, daß sie uns jederzeit erlaubt haben, Kinderplatten zu hören, denn ihrer Meinung nach förderte das (im Gegensatz zum Fernsehen) "die Phantasie". (Wenn man im Fernsehen allerdings einmal eine Sendung angefangen hatte, durfte man sie auch zu Ende gucken, weil die Unterbrechung sonst dem Gehirn schaden würde. Ich weiß nicht, woher sie das hatten.) Wenn ich krank war, und im Fernsehen gab es nur das Testbild, wurde der Plattenspieler aufgebaut, der so unpraktisch konstruiert war, daß sich die Acryl-Abdeckung über Langspielplatten nicht schließen ließ. Dann hörte ich Schallplatten und wollte leben wie Ehm Welks "Heiden von Kummerow", ich litt, weil Alfons Zitterbacke durch die Dummheit der Erwachsenen immer zu Unrecht bestraft wurde, ich wunderte mich, daß in arabischen Märchen Männer manchmal "Oma" hießen, ich gruselte mich beim "Flaschenteufel" von Stevenson und hörte hundertmal "Die sieben Geißlein" mit Joseph Offenbach als Erzähler, wobei ich vor allem darauf wartete, daß die Geißlein den Wolf in den Brunnen schmissen, weil sie anschließend so schadenfroh lachten und sangen. Die Sprecher in diesen Hörspielen waren meistens erstklassige Schauspieler. Bevor ich Kurt Böwe, Dietrich Körner, Käthe Reichel, Dieter Mann, Klaus Piontek, Jutta Wachowiak oder Fred Düren im Theater sah, hatten sich mir ihre Stimmen schon so tief eingeprägt, daß mich das Timbre heute noch berührt und beruhigt. Natürlich war mit der Wende auch diese Tradition erst einmal beendet, so aufwendig und sorgfältig konnte man unter Marktbedingungen für Kinder wohl nicht mehr produzieren. Aber der Schatz, den es schon gab, war ja groß, wie man hier sehen kann.
Eine Eigentümlichkeit an der DDR-Kulturproduktion war, daß kritische Autoren im Kinderbereich eine Nische fanden. Von Franz Fühmann und Peter Hacks gibt es wichtige Kinderbücher, immer wieder stolpere ich über Sarah Kirschs Namen, als Übersetzerin eines bulgarischen Märchens, als Autorin von Kinderversen oder der großartigen Kinderplatte "Die betrunkene Sonne". Von Thomas Brasch als Autor hatte ich noch nie gehört, da kannte ich schon seine Hörspiel-Berarbeitung des Märchens vom "Schweinehirten" und vor allem die Hörspiel-Single "Vom dicken Herrn Bell, der das Telefon erfunden hat", die von 1974 stammt, dem Jahr, in dem ich die Platte vermutlich geschenkt bekommen habe. Der Sprecher ist der große Rolf Ludwig vom Deutschen Theater, die Musik stammt vom Komponisten und langjährigen musikalischen Leiter des Deutschen Theaters Reiner Bredemeyer.
Für Thomas Brasch war das Telefon lebensnotwendig, vor allem nachts soll er stundenlang Freunde angerufen und ihnen Schallplatten vorgespielt haben. 1974 hatte er seinen Gefängnisaufenthalt, zu dem er 1968 wegen der Verbreitung selbsthergestellter Protest-Flugblätter gegen die Zerschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Vertrags, verurteilt worden war, längst abgesessen. Er hatte sich in der Produktion im Kabelwerk Oberspree "bewähren" müssen, er war inzwischen wieder als Schriftsteller tätig und würde 1976 für die Veröffentlichung seines ersten Buchs "Vor den Vätern sterben die Söhne" in den Westen gehen. Dort sollte er von Franz-Joseph Strauß einen Preis überreicht bekommen, für den er sich eigenwillig bedanken würde. Zwischen Gefängnis und Ausreise hat er die Geschichte vom dicken Herrn Bell geschrieben, der in seiner Version das Telefon erfunden hat, weil er irgendwann zu dick war, sein Zimmer zu verlassen. Auf der B-Seite hat er sogar eine Frau gefunden, die sich aber ärgert, daß er ständig telefoniert.
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