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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Der Hundertjährige Krieg um Palästina

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 13.05.2024

Am 7. Oktober 2023 mordeten palästinensische Terroristen so viele Juden wie bislang nie; es war das erste Schaumassaker der Geschichte. Die Täter filmten und übertrugen ihre Verbrechen direkt.

Der Gegenschlag der teilweise rechtsextremen israelischen Regierung ist ebenso beispiellos. Alte Traumata brechen verstärkt auf.

Da das alles in einer Zeit gravierender weltpolitischer Kriege und Auseinandersetzungen geschieht, sind die Auswirkungen weltweit zu spüren. Südafrika verklagt Israel des Völkermords oder Studentenproteste erschüttern die westliche Welt.

Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung von Der Hundertjährige Krieg um Palästina befragt Hanno Hauenstein den Autor des Standardwerkes Rashid Khalidi, der als Professor an der Columbia Universität in New York die Proteste direkt erlebt(e). An den oft beschworenen Antisemitismus glaubt er nicht:

Tatsächlich sind ein großer Teil von ihnen Jüdinnen und Juden. Einige der Gruppen, die außerhalb des Campus demonstrierten, haben möglicherweise antisemitische Slogans verwendet. Tatsächlich sind die rechtsgerichteten Pro-Israel-Demos, die von Leuten wie den Proud Boys angeführt werden, ziemlich antisemitisch. Aber das Argument, die Verwendung eines Begriffs wie Intifada, der auf den Protesten an diesen Unis oft zu hören ist, sei antisemitisch, ist absurd.

Vieles, was oft als selbstverständlich angesehen wird, sieht Rashid Khalidi anders. Zuweilen ändert er die Fragen:

Gibt es ein israelisches Volk? Und hat dieses Volk Rechte? Nun, es gibt ein amerikanisches Volk. Deren Rechte werden bis heute auf Kosten der einheimischen Bevölkerung ausgeübt, ähnlich wie in Neuseeland, Kanada und Australien auch. Diese schrecklichen Ungerechtigkeiten sollten beseitigt werden. Aber natürlich gibt das amerikanisches Volk. Genauso gibt es das israelisches Volk. Allerdings müssen die schrecklichen Ungerechtigkeiten, die mit der Enteignung der Palästinenser und der Verweigerung ihrer nationalen Existenz einhergingen, wiedergutgemacht werden.

Der ehemalige Berater von Barack Obama, der den Edward-Said-Lehrstuhl für Modern Arab Studies innehat, argumentiert ähnlich global wie der Namensgeber des Lehrstuhls. Seine Antworten werden einige überraschen, ja sogar Abwehrreflexe erzeugen, wenn er sogar für Verhandlungen mit der Hamas plädiert:

Die Briten und die Iren hätten sich nie geeinigt, wenn Großbritannien 1921 nicht Verhandlungen mit Sinn Fein und in den 1990er Jahren mit der IRA zugestimmt hätte, nachdem diese Hunderte britischer Soldaten und Polizisten sowie viele Zivilisten in Nordirland getötet hatte. Das südafrikanische Apartheidsystem wäre nicht beendet worden, wenn Südafrika nicht mit dem ANC verhandelt hätte. Das Gleiche gilt für die Franzosen und die FLN in Algerien. Die Israelis und die Amerikaner wollen ihre eigenen sogenannten Vertreter der Palästinenser einsetzen und so tun, als sei das eine Verhandlung. Das ist keine Verhandlung, das ist ein Diktat.

Dabei kritisiert Rashid Khalidi nicht nur das 2018 von der Knesset verabschiedete Gesetz mit Verfassungsrang, das Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes festschreiben will, sondern auch den Westen, wo es Proteste für Palästina bis hin zum European Song Contest gab, gibt und wohl geben wird. 

Die amerikanische, sowjetische, später französische, britische und deutsche Unterstützung für Israel war für die Unterdrückung des palästinensischen Volkes unerlässlich. Ohne diese Unterstützung könnte nichts von dem, was wir heute sehen, geschehen.

Die Stärke der Hamas erklärt er aus dem Scheitern der PLO: in den 1990er Jahren konnte sie über den Osloer Prozess keinen unabhängiger, souveräner palästinensischer Staat verwirklichen.

Hier wird eine Rückblende notwendig, die ich der Onlineredaktion der bpb (Bundeszentrale für politische Bildung) entnehme. Viele der Konflikte heute findet man im Beitrag zum Osloer Abkommen.

Neu ist das Schaumassaker in Israel mit über 1000 Ermordeten, Gefolterten und Entführten und der längste Gegenschlag von Israel mit Toten im bislang fünfstelligen Bereich.

Eine überzeugende jüdische Stimme ist die des in Berlin arbeitenden Avner Ofrath. Sein Beitrag aus dem Merkur soll das Bild nicht abschließen, aber abrunden. 

Er nimmt das Motiv des hundertjährigen Krieges auf:

Die beispiellose Brutalität, die in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 in Israel/Palästina entfesselt wurde und seither nicht abreißt, erfordert ein neues Vokabular und Verständnis der Wurzeln, der Dynamik und der Motive der Gewalt vor Ort, aber auch der globalen Reaktionen darauf. Noch nie in der einhundertjährigen Geschichte dieses zutiefst asymmetrischen Konflikts wurden Zivilisten auf beiden Seiten so explizit, massenhaft und grausam angegriffen; noch nie klafften in westlichen Universitäten, Medien und Kulturbetrieben Bilder, Vorstellungen und Grundannahmen rund um den Konflikt so schnell, so weit, so unüberwindbar auseinander; noch nie stellten die Folgen des Konflikts eine derart unmittelbare Gefahr für den Frieden ganzer Gemeinden in Europa und Nordamerika dar: Weltweit sind vor allem jüdische, aber auch muslimische Menschen, Gemeinden und Einrichtungen einer Welle des Hasses ausgesetzt. 

Wie sein älterer palästinensischer Kollege Rashid Khalidi geht er von enormen Opferzahlen aus, davon wahrscheinlich 70 Prozent Frauen und Kinder. 

Hunderttausende könnten in den nächsten Monaten an Krankheiten sterben, nachdem israelische Luftangriffe zivile Infrastrukturen zerstört und einen Großteil des Gazastreifens buchstäblich unbewohnbar gemacht haben. Berichte über eine katastrophale Hungersnot häufen sich und lassen den Verdacht auf eine gezielte Strategie des israelischen Militärs entstehen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat zwar nicht angeordnet, dass Israel seine Offensive beenden muss, den Verdacht auf Genozid jedoch auch nicht zurückgewiesen und Israel aufgefordert, zu beweisen, dass es keinen Genozid verübe.

Eine Auslöschung der Hamas, deren Führung nicht im Gazastreifen lebt, scheint unmöglich oder eine vergleichbare Nachfolgeorganisation könnte entstehen.

Vertreter der Hamas beteuern ihrerseits, Angriffe wie den vom 7. Oktober wiederholen zu wollen.

Auch Avner Ofrath wählt einen Panoramablick, der Parallelen mit verarmten französischen Landarbeitern zieht, die ihr Glück im kolonialisierten Algerien suchten. Oder er vergleicht, setzt nicht gleich, jüdische Siedler mit deutschen Kleinbauern in den preußischen Ostgebieten oder Ausgegrenzte in Australien. 

In all diesen Fällen stammte zumindest ein beachtlicher Teil der Siedler aus den ausgegrenzten Schichten der kolonisierenden Gesellschaften.

Wie gefährlich das sich entwickelnde Drama ist, sieht man auch in Nebenbemerkungen:

Dass es angezeigt scheint, an dieser Stelle hinzuzufügen, dass eine Analyse keine Rechtfertigung bedeutet, zeigt die intellektuelle Sackgasse des gegenwärtigen Moments.

Deshalb möchte ich auf einen älteren Pick über und von Stefan Hertmans verweisen. Es ist ein Weltautor, der hierzulande nicht so bekannt ist wie es sein sollte:

So erzählt er von einem afrikanischen Priester, der ihm den Antisemitismus ungewohnt erklärt, und erkennt, wenn eine Person of Colour den Antisemitismus „als Stammeskrieg unter Weißen“ versteht, „dass wir alle aktuellen Probleme geopolitisch vollkommen neu kalibrieren und unsere Themen, Motive und Argumente einer geistigen Migration unterziehen müssen“.


Gestern & Heute: Der Hundertjährige Krieg um Palästina

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Kommentare 1
  1. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor 7 Monaten

    Danke für diesen Text.
    Die Kernfrage scheint mir: wie kann man als Westler und als Deutscher aufgeklärt mit der Verdrängung der arabischen Palästinenser in der Folge der Israelischen Staatsgründung, der "Nakba", umgehen, ohne den Wunsch und das Bedürfnis der jüdischen Palästinenser, d.h. der jüdischen Israelis, nach einem sicheren Hafen für alle Juden für alle Zeit von der Hand zu weisen?
    Wie kann ein Weg gefunden werden, auf dem beide Seiten ihre Würde und ihre Sicherheit wahren können?
    Ein Aspekt ist die phantastische Blindheit des Westens im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen für die Annexionspolitik der Siedler und ihrer politischen Parteien, zu der Talleyrand vielleicht auch gesagt hätte: "Schlimmer als ein Verbrechen - ein Fehler."
    Ein anderer Aspekt: die Nakba und ihre Vorgeschichte muss - nicht nur in Historikerkreisen - aufgearbeitet werden. Ohne das wird es keine Versöhnung geben können. Mit einem die Komplexität erfassenden Blick.

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